Istanbul: Vier Routen, Istanbul zu entdecken

Reisleiter Orhan Esen.

Im Vordergrund die Örtakoy-Moschee - dahinter das moderne Geschäftszentrum. Bild: Archiv

Das nördliche Zentrum (3. Tag der Reise)

Nördlich vom Goldenen Horn lagen in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Neubaugebiete Istanbuls. Die Entwicklung erfolgte erstens entlang des Bosporus, wo sich der Staat ausbreitete, zweitens entlang der Kammstrasse (die sog 'Grand Rue'), wo sich das Kapital ansiedelte, und drittens unterhalb vom Kamm, wo sich die modernen Unterklassen niederließen: Hier lässt sich die soziale und politische Modernisierungsgeschichte im späten osmanischen Reich bis in die ersten Jahre der republikanischen Periode ablesen.

Das einst mondäne, später heruntergekommene und heute im Zentrum der Gentrifizierungsprozesse stehende Szeneviertel Pera entlang der Grand Rue (heute: Istiklal-Çadesi) bildet den Auftakt der Exkursion. Es folgt der Taksim-Platz, das Zentrum des republikanischen Istanbul, mit umliegenden Mustersiedlungen, wie etwa Talimhane. Im Maçka-Tal lernen wir die Umwandlung der osmanisch-imperialen Raumplanung in eine republikanische kennen, und später die ungeplante Umwidmung der wertvollsten Stadtfläche für die Belange der globalen Metropole.

Gleich neben dem spätosmanischen Dolmabahçe-Palast sorgen das volkstümliche Beşiktas am Hafen, und dessen imperialer Bruder Akaretler für ein äußerst kontrastreiches Städtebauprogramm

Wir setzen die Fahrt talaufwärts fort nach Tesvikiye und Nişantaşı, das für die politische Elite des modernisierenden osmanischen Reiches gegründet wurde und dessen spätere Umwandlung im Oeuvre Orhan Pamuks verewigt wird. Şişli, das geschäftige up-town, kontinuierlich besiedelt und radikal verändert seit dem 19. Jahrhundert, übernimmt heute viele Funktionen eines Stadtzentrums. Im Fulyatal steigen wir in Themen jüngerer Stadtentwicklung ein, und erreichen in Mecidiyeköy am inneren Autobahnnring, einst außerhalb der Stadt und seit den 1970ern ein Zentrum des öffentlichen Nahverkehrs, den nördlichsten Punkt unserer Zentrumsfahrt. Zurück geht es über das alt-industrielle Bomonti, das einst griechische Tatavla / Kurtuluş, sowie das verslumte Dolapderetal und Tarlabaşı.

Das Erbe einer historischen Weltstadt (4. Tag)

Der Besuch des historischen Kerns von Istanbul macht uns mit den 'politisch-imperialen' sowie den wirtschaftlichen Hintergründen der ältesten Weltstadt vertraut. Sie war als solche gegründet, und hat diese Rolle niemals (außer um die Mitte des 20. Jahrhunderts) eingebüßt. Wir erkunden Stadtgebiete auf der historischen Halbinsel, die eine über Jahrtausende währende stadträumliche Kontinuität aufweisen.

Das römische Hippodrom bzw. der osmanische Pferdeplatz bildete bis zur osmanischen Modernisierung im 19. Jhdt. die Schnittstelle zwischen den imperial-politischen und den zivil-öffentlichen Sphären im Stadtgefüge, repräsentiert durch die römisch-christliche Kaiserkathedrale der heiligen Weisheit (Hagia Sophia) und die Palastzisterne Yerebatan Sarayı.

Das Viertel der Hane war historisch das zentrale Geschäftsviertel, die reizvolle Welt osmanischer Gilden mit ihren Mehrzweckhofbauten. Die Hafenviertel Eminönü ("aegyptischer" oder Gewürzbasar) und Sirkeci (Endstation Orientexpress) sind im 19. Jhdt zentrale Orte der sich modernisierenden und boomenden Handelsmetropole.

Das südliche und westliche Zentrum (5. Tag)

Die Wohnviertel auf der historischen Halbinsel verloren ihre Attraktivität für die finanzstarken Klassen im Laufe der Modernisierung und entwickelten sich schon im 19. Jhdt. zum Armenpott der Metropole. Etliche Viertel im Süden konnten sich von den harten Schlägen der Schrumpfung in den 1920er-30er Jahren sowie der De-Industrialisierung der 1990er Jahre bis heute nicht erholen, und verslumten. Neuere, oft mit Tourismus gekoppelte Prozesse der Gentrifizierung bilden genauso wenig einen konstruktiven Ansatz wie die neo-liberalen Politiken einer harten 'Flächenerneuerung'. Am Westrand des historischen Zentrums entwickelten sich seit der Mitte des 20. Jhdts sog. „Gecekondu" („Über-Nacht- gebaute“) Gebiete der meist anatolischen Zuwanderer, an deren Entstehung und Mutationen sich die Eckdaten der Industriegeschichte Istanbuls ablesen lassen.

Der umkämpfte und umstrittene Tarlabaşı Boulevard auf der historischen Halbinsel markiert die Geburtsstunde aktueller städtischer Oppositionsbewegungen. Konflikte im urbanen Raum kristallisieren sich so krass wie nirgendwo sonst in den angrenzenden Stadtteilen Zeyrek sowie Suleymaniye, beide auf der UNESCO Weltkulturerbeliste, beide auf unterschiedliche Weise jedoch stark verslumt. Das armenisch geprägte Samatya am Marmarameer gibt ein exemplarisches Bild historischer Modernisierungsprozesse der Südstadt ab; und das Viertel Zeytinburnu am Marmarameer ist ein gutes Laboratorium für die informelle Siedlungsgeschichte Istanbuls.

Die Peripherien der Metropole (6. Tag)

Boomende Weltmetropole İstanbul: das ist vor allem am Rande um den äußeren zweiten Autobahnring zu beobachten; um den Waldgürtel im Norden, an den Knotenpunkten des äußeren Autobahnringes; hier zeigen sich auch die Phänomene der zweiten Welle der informellen Landnahme, die seit der Mitte der 1980er Jahre im Gange ist.

Levent ist das aktuelle zentrale Geschäftsviertel Istanbuls mit den Stadtbild prägenden Hochhäusern der Finanzinstitute. Göktürk im Norden ist eine wahre Boomtown im Walde, deren Ortsbild durch die 'Gated Communities' (1990er-200er Jahre) geprägt ist.

Auf der asiatischen Seite ist Kavacık ein typisches Beispiel einer Edge City Entwicklung am Autobahnknoten, die sich in den letzten 20 Jahren aus paar Bauernhöfen entwickelt hat. Im Kreuz Ümraniye kann man sehen, wie ein Autobahnkreuz in eine Shoppingmall und einen Standort mit Prestige-Architektur verwandelt wurde.

Çekmeköy ist ein typischer Neubezirk an der Peripherie, gemischt mit wilden Siedlungen und Investorenparadiesen. Dudullu war ein verschlafenes Dörflein im Wasserschutzgebiet, das durch den Autobahn-Anschluss in einen Industriemoloch mit 350.000 Arbeitsplätzen verwandelt wurde. In Ataşehir wurde die erste Mega-Satellitenstadt um ein Autobahnkreuz gebaut, die unlängst zu einem eigenständigen Stadtbezirk erklärt wurde.