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Jahrestag von Stalins SäuberungenBraucht Wladimir Putin einen neuerlichen „Großen Terror“?

Die Logik von 1937 lebt im Schatten des Kreml weiter. Von Stalins „Säuberungen“ bis zu Putins Repressionen.

Der russische Präsident Wladimir Putin im Kreml in Moskau, Russland, am Montag, dem 4. August 2025 Foto: Mikhail Metzel/Sputnik/Kremlin Pool Photo via AP

A m 5. August 1937 begannen in der Sowjetunion die blutigsten Säuberungen der Stalin-Ära. Sie dauerten bis November 1938 an. In der Publizistik wird diese Kampagne als „Großer Terror“ bezeichnet; im Volksmund als „1937“.

Dank der in den 1990er Jahren geöffneten Geheimarchive weiß man, dass es sich dabei um eine gigantische Repression handelte, die alle Regio­nen und sozialen Schichten erfasste: 1,7 Millionen Menschen wurden verhaftet, 700.000 davon erschossen. Die „Operationen“ 1937 waren sorgfältig geplant. In geheimen Befehlen des NKWD wurden Fristen für ihre Durchführung, zu „säubernde“ Kategorien, die Sollzahlen für Verhaftungen festgelegt.

Im Rahmen der „nationalen Operationen“ wurden Zehntausende wegen ihrer polnischen oder deutschen Herkunft verhaftet, 20.000 Frauen als Ehefrauen von „Vaterlandsverrätern“ in den Gulag geschickt, ihre Kinder in Waisenhäuser überführt. Urteile wurden im Schnellverfahren durch speziell gebildete „Troikas“ gefällt, während der Verhöre wurde systematisch Folter eingesetzt.

Selbst die Täter wurden zu Opfern

Der Terror verlief im Geheimen. Die sowjetischen Behörden verbreiteten Lügen über das Schicksal der Erschossenen. Es hieß, sie seien in die Lager „ohne Recht auf Briefverkehr“ gebracht worden. Später wurden falsche Sterbeurkunden ausgestellt, die Krankheiten im Gulag als Todesursache angaben.

Überall fanden Kundgebungen statt, die die Hinrichtung von „Volksfeinden“ forderten. Kinder sollten sich von verhafteten Eltern lossagen, Frauen von ihren Männern. „1937“ machte selbst die Täter zu Opfern: auch jene, die die Repressionen durchführten, wurden verurteilt. Jedoch nicht wegen der von ihnen verübten Verbrechen.

„1937“ stellte die Linken im Westen vor eine zynische Wahl zwischen Stalin und Hitler (ein markantes Beispiel ist das Buch „Moskau 1937 von Lion Feuchtwanger, der die Moskauer Prozesse rechtfertigte) und zwang sie, über die Schicksale politischer Emigranten zu schweigen, die in der Sowjetunion Zuflucht suchten und zu Opfern Stalins wurden.

Postmoderne Kopie des Stalinismus

Seither ist die Meinung zu „1937“ zu einem politischen Indikator geworden, der weniger über die Vergangenheit als vielmehr über die Gegenwart Auskunft gibt. In den früheren Jahren Putins gab es hier eine gewisse Ambivalenz. Man leugnete nicht, dass es den Massenterror gab, doch von der Verantwortung des Staates oder seines Hauptorganisators war kaum die Rede.

In der Folge sollte sich in der Politik immer deutlicher das unbewältigte Erbe von „1937“ zeigen – etwa in der Idee einer „feindlichen Umzingelung“, der Suche nach „Feinden“ im Ausland und einer „fünften Kolonne“ im Inneren.

Mit der Verschärfung der Repressionen und dem Ausbau des Sicherheitsapparates verschwand die Ambivalenz des Putin-Regimes. Es begann sich immer mehr als eine Art postmoderner Kopie des Stalinismus darzustellen. Die Debatte kam auf: Wo stehen wir, ist es noch 1934 oder bereits 1937?

Die Autorin

Irina Scherbakowa ist Vorsitzende der Organisation „Zukunft Memorial“.

Heute werden nicht nur Oppositionelle verhaftet, sondern auch putintreue Staatsbeamte oder Unternehmer. Es wird Folter angewendet und es werden drakonische Strafen verhängt. Vor dem Hintergrund der schwächelnden Wirtschaft und des erfolglosen Krieges versucht Putin, sich als Nachahmer von Stalin zu inszenieren, um so seinen Namen mit Sieg und Kampf gegen „korrupte Eliten“ zu verbinden.

Wie einst Stalin lässt er sich in seiner Moskauer Kreml-Wohnung zeigen, wach bis tief in die Nacht, bescheiden Kefir trinkend. Dabei bemüht man sich, das Original zu rehabilitieren. In einem Gesetz von 1991 fehlt die Formulierung über den Massenterror. Und Sjuganows Kommunisten gehen aktuell noch weiter. Auf ihrem Parteitag beschlossen sie, Chruschtschows Rede vom 20. Parteitag, die „1937“ verurteilte, nicht anzuerkennen.

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8 Kommentare

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  • In einer Analyse zu d. Vorgängen zu Beginn des WK II u. zur Höhe d. Verluste der sowjet. Armee las ich einmal etwas über d. Zusammenhang mit der "Enthauptung d. Offizierskorps".



    "Am 11. Juni 1937 verurteilt ein geheim tagendes Militärtribunal Michail Tuchatschewski und acht weitere führende Kommandeure zum Tode, das Urteil wird im Morgengrauen des 12. Juni vollstreckt.



    Das Verfahren gegen die Militärführung löste eine Terrorwelle aus, durch die in den



    folgenden Wochen und Monaten hunderte weitere hohe Offiziere ihr Leben lassen mussten. Die Armee wurde gleichsam „enthauptet“. Parteichef Nikita Chruschtschow erklärte 1956 die Vorwürfe für unbewiesen, die Opfer wurden voll rehabilitiert."



    dlf.de



    Über Putin wiederum las ich, dass er eher andere Vorbilder habe, nicht aus d. Partei.



    "Wladimir Putins selbstherrlicher Vergleich mit Peter dem Großen ist betrügerische Geschichtsklitterung und zugleich Bedrohung für die baltischen Staaten sowie Schweden und Finnland



    Animiert durch Peter den Großen fühlt sich Wladimir Putin nicht zum ersten Mal. Es muss für ihn ein beseelender Anblick gewesen sein, als er in den 1990er Jahren in seinem Büro im Rathaus von St. Petersburg ein Porträt..."



    fr.de

  • Putin terrorisiert die Bevölkerung und das schon ziemlich lange. Er ist als ehemaliger Angehöriger des KGB darauf trainiert. Ob das bereits auf dem Niveau von Stalin passiert, kann ich nicht wirklich beurteilen, aber verglichen mit Deutschland oder Frankreich sind Grund- und Menschenrechte kaum noch vorhanden. Dagegen war es wahrscheinlich in der UdSSR unter Breschnew richtig gut ....

  • Ich sehe gewissen Widersprüche zwichen den Behauptungen im Kommentar und den überwiegenden belegbaren Fakten.

    Was ich meine:

    Artikel-Zitat:

    "Es begann sich immer mehr als eine Art postmoderner Kopie des Stalinismus darzustellen.



    ...



    Heute werden nicht nur Oppositionelle verhaftet, sondern auch putintreue Staatsbeamte oder Unternehmer"

    Atikel-Zitat:

    "Und Sjuganows Kommunisten gehen aktuell noch weiter. Auf ihrem Parteitag beschlossen sie, Chruschtschows Rede vom 20. Parteitag, die „1937“ verurteilte, nicht anzuerkennen."

    Zitat Putin 2010 bei Besuch der Gedenkstäte in Katyn:



    (Quelle Böll-Stifung)

    "Es gibt keinerlei Rechtfertigung für diese Verbrechen. Unser Land hat die Untaten des totalitären Regimes klar politisch, rechtlich und sittlich bewertet.“

    Die Fakten:

    Sjuganows Kommunisten sind die größte Oppositionspartei in Russland, Sjuganows war lange Opositionsführer im russ. Parlament.



    Es ist somit die Opposition, bzw. der größte Teil der Oppositon die Stalin rehabelitieren möchte.

    Artikel-Zitat:

    "Vor dem Hintergrund der schwächelnden Wirtschaft "

    Die Fakten (Weltbank-Statistik:



    Wirschaftswachstum 2023: +4,1%



    Wirschaftswachstum 2024: +4,1%



    Wirschaftswachstum 2025: +2,5%

  • Und die Herren Mützenich und Stegner sowie die Kommunistin Wagenknecht können nicht genug Vaseline bunkern und Kreide fressen um diesen faschistischen Staat und seinen potentiellen Kriegsverbrechern zu huldigen.

    • @Oleg Fedotov:

      Es steht Ihnen frei zu belegen, wo die Genannten Russland „gehuldigt“ haben (zumal Wagenknecht ja schon seit geraumer Zeit Marx durch Ludwig Erhart ersetzt hat). Die Treffen mit Vertretern Russlands (an denen wiederum nicht Wagenknecht beteiligt war, sondern auch CDU-Politiker, was Sie hier elegant unterschlagen) waren auch keine Sympathiebekundungen, sondern ein vermutlich mit Regierungskreisen koordinierter Versuch, Gesprächskanäle zu pflegen, die gerade in konfliktreichen Zeiten nötig sind (es ist ermüdend, das immer wieder zu erklären, aber Diplomatie gibt es nicht, weil sich Staaten so gern haben, sondern gerade, weil das nicht der Fall ist).

      • @O.F.:

        Es ist nicht zu leugnen, dass Leute, die die Aufhebung der Sanktionen und gar eine Wiederaufnahme der Gaslieferungen sowie den Stopp der Unterstützung der Ukraine fordern, Russland sehr, sehr nützlich sind (und für Deutschland sehr schädlich). Das können auch Sie nicht bestreiten, und das ist mit "huldigen" gemeint. Sie wissen das, also warum fangen Sie jetzt diese semantische Erbsenzählerei an?

        Der zweite Abschnitt: reine Spekulation. Im übrigen ist es doch wohl eher RUSSLAND, das sich hier Gesprächskanäle offenhalten müsste. Wo sind denn die russischen Wagenknechts, Mützenichs, Platzecks, Krahs, Moosdorfs, O.F.s?

        • @Suryo:

          Wer mit Wirtschaftsstatistiken vertaut ist sieht das die Rezession in Deutschland zeitlich 1 zu 1 mit den Sanktionen und vor allem dem Verzicht auf russisches Gas korreliert.

          Wirschaftswachstum 2021: +3,9%

          Wirschaftswachstum 2022: +1,8%

          Wirschaftswachstum 2023: -0,9%

          Wirschaftswachstum 2024: -0,5%







          Wirschaftswachstum 2025: +/- 0,X%



          (Prognosen unterscheiden sich)

          Tatsächlich haben "wir" größere Probleme mit den Sanktionen als Russland.

          P.S.: Das russiche Gas kauft jetzt China



          --> und hatte 2024 über +5% Wirtschaftswachstum

          P.P.S.: Bei uns kommt der Kohleausstieg nicht oder langsamer voran -- weil das Gas für den Kohleersatz fehlt.