Jahrgangsübergreifender Unterricht in Grundschulen: Lehrer boykottieren Unterricht

Die wichtigste Neuerung der Berliner Schulgeschichte stockt: Viele Grundschullehrer wollen das jahrgangsübergreifende Lernen nicht umsetzen.

Fingerzeig: Jung lernt von Alt Bild: AP

An Berlins Grundschulen ist ein offener Klassenkampf ausgebrochen: Viele Lehrer und Eltern wehren sich dagegen, dass alle 5- bis 8-jährigen Schüler ab dem nächsten Schuljahr in gemischten Gruppen unterrichtet werden. Sie fordern, die herkömmliche Trennung in die Klassen eins bis drei zu erhalten. Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) will das altersgemischte Lernen aber wie im Schulgesetz geplant an allen 396 Berliner Grundschulen umsetzen. Gegenüber der taz räumt er jedoch ein: "Die Organisation muss natürlich so sein, dass es in ausreichendem Maße funktionieren kann. Ich setze mich mit den Sorgen von Schulen im Augenblick sehr ernsthaft auseinander."

Die Jahrgangsmischung ist Bestandteil der flexiblen Schuleingangsphase und sollte bereits zum laufenden Schuljahr eingeführt werden. Allerdings unterrichten erst 176 Grundschulen, also rund 40 Prozent, nach diesem Prinzip. Es sieht vor, dass Schulanfänger in eine Lerngruppe mit erfahrenen Schülern kommen, die die Kleinen an die Hand nehmen und dabei selbst lernen, Wissen weiterzugeben. Ziel dieser Reform ist es, Schüler individueller zu unterrichten.

Die Protestbriefe auf Zöllners Schreibtisch häufen sich jedoch mittlerweile: 900 Neuköllner Lehrer haben in dieser Woche bekannt, dass an ihren Schulen große Unruhe und Unmut darüber herrsche, dass das jahrgangsübergreifende Lernen ab nächstem Schuljahr eingeführt werden muss. "Unsere Schüler sind so unselbstständig und hilfebedürftig, die brauchen eine feste Klassenstruktur", sagt Gudrun Genschow von der Eduard-Mörike-Schule in Neukölln. Viele Kinder hätten keine Kita besucht, könnten sich weder die Nase putzen noch die Schnürsenkel binden. "Jahrgangsübergreifendes Lernen erfordert zusätzliches Engagement. Doch wie soll man eine Sache engagiert vertreten, von der man nicht überzeugt ist?", fragt die Lehrerin. Auch aus Pankow erhält Zöllner Post: Lehrer und Eltern lehnen den pädagogischen Ansatz ab oder klagen über fehlendes Personal und mangelnde Räume.

Tatsächlich ist die Mehrheit der Lehrer nicht darauf vorbereitet, höchst unterschiedliche Schüler gemeinsam zu unterrichten. Zwei Drittel der Pädagogen verzichteten im letzten Schuljahr auf innere Differenzierung, also auf Maßnahmen, um stärkere und schwächere Schüler gleichermaßen zu fördern, merkten die Schulinspektoren an. Dabei bietet das Landesinstitut für Schule und Medien seit sieben Jahren entsprechende Fortbildungen an. Die Teilnahme ist jedoch freiwillig. "Die Veranstaltungen stoßen auf geteiltes Interesse, es geht letztlich darum, ob man weiterhin im Gleichschritt unterrichten will oder individuell", so Mechthild Pieler, zuständig für die Schuleingangsphase. Viele KollegInnen würden sich nur ungern auf neue Anstrengungen einlassen, sagt Jürgen Schulte vom Gesamtpersonalrat der Lehrer. So meint eine Schulleiterin: "Wir bieten jede Woche Hospitation und Beratung an, doch kaum jemand interessiert sich dafür."

"Es kommt auf die richtige Einstellung an", bilanziert die stellvertretende Leiterin der Weddinger Rudolf-Wiessell-Schule. Die Kinder aus 27 Nationen werden seit sieben Jahren in gemischten Gruppen unterrichtet. "Man muss als Lehrer lernen, im Team zusammenzuarbeiten. Einzelkämpfer haben es schwer."

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