Jazz-Festival: A l’arme! 2016: Zwischen Kontemplation und Explosion

Heute startet die vierte Ausgabe des A l’arme! Festivals. Und scheut weder Melancholie noch die Attacke auf abendländische Hörgewohnheiten.

Sofia Jernbergs Auftritt mit dem Quintett Seval zählt zu den Höhepunkten Foto: Jon Edergren

Die Zahl Vier steht in der Musik für Ebenmäßigkeit, für ausgewogene Verhältnisse zwischen Grundschlag und Fortdauer eines Musikstücks. Abendländisch sozialisierte Ohren vernehmen beim gleichmäßigen Wechsel von betonten und unbetonten Tönen in einem Viervierteltakt einen Wohlklang, die Viererschemata sind für den Aufbau von Melodien und Strophen eines Popsongs essenziell.

Louis Rastig, künstlerischer Leiter des A l’arme! Festivals, verbindet mit der vierten Ausgabe eine Art Einkehr bei elementaren Wegmarken von KünstlerInnen, deren Projekte in einem von Katastrophen überschatteten Jahr zu sinnlicher Versenkung und Lust an Entgrenzung einladen.

„Viele Programmpunkte sind von einer kontemplativen Grundstimmung geprägt“, erzählt Rastig im Gespräch. „Die melancholisch anmutenden Klänge fand ich passend zur Zahl Vier. Andere Konzerte werden aber auch kraftvoll und explosiv.“ Während das A l’arme! Festival 2015 KünstlerInnen aus 17 Ländern versammelte, werden in diesem Jahr vornehmlich musikalische Strömungen aus Europa zu hören sein.

Nicht der produktive Lärm, der sich im Namen des Festivals manifestiert, steht dieses Mal im Fokus, sondern das unbedingte Verfechten der Freiheit mit den Waffen der Kunst, die ebenfalls im Festivalnamen aufblitzen.

„Die Musik jeder und jedes Einzelnen als Waffe für die Freiheit zu begreifen bleibt in einer Welt der Digitalisierung und des Überangebots ein Leitfaden. Der Waffengang von A l’arme! steht daher nach wie vor im kategorischen Imperativ“, erklärt Rastig mit hörbarem Schmunzeln.

Radialsystem, Holzmarktstraße 33/Berghain, Am Wriezener Bahnhof, 27.–30. 7., Ticketpreise gestaffelt, Programm: www.alarmefestival.de

Wer die höchst beachtliche Entwicklung des Festivals über Genregrenzen hinweg in den letzten Jahren verfolgt hat, ist nicht mehr versucht, es mit dem Etikett Free Jazz zu versehen. „Es geht eher darum, diesen Platzhirschen Free Jazz bei den Hörnern zu packen und den Begriff zu entschlacken. Denn gerade die Diversität zeichnet das Festival aus.“ Die weitsichtige Programmplanung mit dem untrüglichen Gespür für zwingende Performances ist einmalig in Deutschland und ein Glück für Berlin.

Rastig ist für 2016 bewusst ein Wagnis eingegangen: „Ich persönlich hatte mich bislang nicht so häufig mit SängerInnen befasst. Aber das Spannungsverhältnis zwischen inneren Vorgängen und gemeinsamen äußeren Räumen beschäftigt mich intensiv. Beim Singen tritt die Körperlichkeit eben radikal zutage. Deshalb ist es eine Herausforderung, nun das vielschichtige und facettenreiche Wesen zeitgenössischen Gesangs zu präsentieren.“

Die Stimmen der kanadischen Geigerin Sarah Neufeld und der irischen Musikerin Clodagh Simonds mit ihrer Band Fovea Hex läuten das Festival prominent ein und aus. Zur Eröffnung am 27. Juli im Berghain wird Neufeld, die Bandmitglied von Arcade Fire ist, ihre repetitiven Geigen-Patterns, die ohnehin hohes Suchtpotenzial verströmen, mit der eigenen Stimme umwehen und kontrastieren.

Im Fokus steht das unbedingte Verfechten der Freiheit mit den Waffen der Kunst

Am gleichen Abend beschwören Daniel O’Sullivan, Mitglied u. a. von Sunn O))) und Ulver, und François Testory im Projekt Laniakea mit atmosphärischen Gesangspassagen zu Streicherklängen und dem Bass von Massimo Pupillo das einstige Reich des Künstlers und Verbündeten der Band Coil, Ian Johnstone.

Die Spoken-Word-Performance des französischen Sound-Poeten Anne-James Chaton verwebt sich in Transfer am zweiten Abend im Radialsystem mit Andy Moors Gitarre und den Visuals der iranischen Filmemacherin Bani Khoshnoudi, die eskapistische Trompete von Roy Paci und eine Rhythm Section schlagen Haken durch das audiovisuelle Geflecht.

Der Auftritt der Sängerin Sofia Jernberg im schwedischen Quintett Seval des Chicagoer Cellisten Fred Lonberg-Holm zählt zu den Höhepunkten des Festivals, unmittelbar danach singen Ingrid Helene Håvik und Kari Eskild Havenstrøm im Kreis der außergewöhnlichen MusikerInnen des Trondheim Jazz Orchestra.

Håvik begleitet sich dazu auf dem Harmonium, wie auch Clodagh Simonds, die am 1. August mit ihren sehr individuellen WeggefährtInnen auf Streichinstrumenten, Tasten, mit Electronics und Gesang ein zwangloses Manifest zeitgenössischen Experimental Folk zelebriert.

Weitere Instrumente, in deren Konzertgenuss man sonst eher selten kommt, sind die Pedal-Steel-Gitarre in Händen von Heather Leigh, die im Duo mit Saxofon-Urschrei-Koryphäe Peter Brötzmann brilliert, gewaltige Luftmassen bewegen der Dudelsackspieler Erwan Keravec und der Saxofonist Mats Gustafsson.

BerlinerInnen sollten sich das erste Gastspiel der Saxofonistin Anna Högberg mit ihrem komplett weiblichen Sextett Attack! keinesfalls entgehen lassen. Zum erhabenen Pflichtprogramm gehört auch The Great Hans Unstern Swindle, in welchem Els Vandeweyer auf dem Vibrafon und Pauline Boeykens auf dem Sousafon bewundert werden können.

Wie bei jeder vorherigen Ausgabe des Festivals werden sich für die BesucherInnen auch diesmal von Tag zu Tag neue Querverbindungen zwischen Spielpraktiken und sehr unterschiedlichen MusikerInnenpersönlichkeiten auftun und einander ähnliche Ästhetiken mit überraschend konträren musikalischen Ansätzen wohltuende Verwirrung stiften.

Dieser Text erschien im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg immer Donnerstags in der Printausgabe der taz

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