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Jazztrio aus LondonAugen schließen und sich fallen lassen

Das österreichisch-britische Jazztrio Flur entwirft auf seinem Debütalbum „Plunge“ einen spirituellen Sound mit Anklängen an den Dancefloor.

Die jungen Musikerinnen von Flur lernten sich in London am Goldsmiths College kennen Foto: Olivia Brissett

Eine Harfe, die samtig glitzernd klingt, Saxofonmelodien wie gehaucht und Drumbeats, die eher Soundeffekte sind als Taktgeber: So klingt es auf dem Debütalbum „Plunge“ der Formation Flur, ein spannungsreiches Klangbild im Niemandsland zwischen ­Ambient und Free Jazz. Zudem führt „Plunge“ viele interessante Fäden ins Jetzt, um ahnen zu lassen, wie sich das Erbe des Spiritual Jazz von heute aus in die Zukunft fortführen lässt.

Das Londoner Trio lädt mit seinem Sound zum genauen Hinhören ein. Seine zehn Songs auf „Plunge“ klingen luftig und intensiv, introvertiert und zugleich weitläufig. Die Band scheut keine Repetitionen, bewegt sich im gemächlichen Tempo, wobei ein Großteil ihrer Songs komplett ohne Beat auskommt.

Zwischen Meditationskissen und Vinylregal mag sich Spiritual Jazz gegenwärtig entspannt anfühlen, doch seine Wurzeln liegen in der radikalen Suche nach gesellschaftlichem Freiraum. Das afroamerikanisch geprägte Genre entstand Mitte der 1960er Jahre in den USA, eng verknüpft mit Namen wie John und Alice Coltrane oder Pharoah Sanders.

Die Suche nach Freiräumen

Es war damals eine Phase, in der in den USA gesellschaftliche Umbrüche anstanden, das Land nach außen immer tiefer in den Vietnamkrieg verstrickt war und zu Hause die rassistische Benachteiligung der Schwarzen Bevölkerung auf dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung in Aufständen kulminierte.

Dieses politische und soziale Reizklima hat insbesondere Schwarze Künst­le­r:in­nen dazu bewogen, im Rahmen von Jazz und bildender Kunst nach politischen, sozialen, religiösen und auch musikalischen Ideen zu suchen. Sie verbanden Jazz mit Folkeinflüssen aus Fernost bis Afrika und setzten ihn als Antwort auf systemische Unterdrückung und autoritäre Strukturen ein.

Flur ist die gemeinsame Sache der österreichisch-äthiopischen Harfenistin Miriam ­Adefris, des britischen Saxofonisten Isaac Robertson und des Perkus­sio­nisten Dillon ­Harrison

Mehr als ein halbes Jahrhundert danach stellt sich die Frage: Wie kann Spiritual Jazz im Hier und Jetzt aussehen? Seine politische Schärfe mag geringer geworden sein, doch finden Künst­le­r:in­nen weltweit neue Wege, die Tradition experimenteller, spiritueller Klänge fortzuführen und durch Musik nach Trans­zendenz zu streben.

Ohne Transzendenz zur bloßen Retrokopie zu machen, kombinieren auch Flur Jazzelemente mit Einflüssen verschiedenster globaler Stilrichtungen und strecken ihre Hände der elektronischen Musik entgegen.

Flur ist die gemeinsame Sache der österreichisch-äthiopischen Harfenistin Miriam ­Adefris, des britischen Saxofonisten Isaac Robertson und des Perkus­sio­nisten Dillon ­Harrison. Kennengelernt haben sich die drei beim Studium an der ­Goldsmiths, University of London. Einzeln arbeiteten sie mit Künst­le­r:in­nen wie ­Ganavya, Floating Points und Shabaka Hutchings – zentralen Stimmen der aktuellen Londoner Jazz- und Elektronikszene.

Mit seinem Debütalbum „Plunge“, erschienen beim Pariser Label Latency, bringt das Trio eine eigenständige Per­spek­ti­ve auf das vertraute Setting mit Harfe: Die üppigen Klänge bilden einen soften Kontrapunkt zu kantigen Melodien und rhythmischen Strukturen. Der Auftaktsong „Nightdiver“ beginnt mit sanften Harfenläufen, bevor lang gezogene Saxofonhooklines neue Richtungen öffnen, um anschließend wieder an Tempo zu gewinnen.

Gleiten über sanfte Wellen

„Bolete“ kombiniert perkussives Zupfen mit komplexem Groove und unerwarteten elektronischen Effekten. Die zweite Albumhälfte startet mit „Hold Fast Old Kelp“ in noch sphärischere Gefilde aus verzerrtem Loop, tiefen Frequenzen und melodischen Fragmenten.

„Trimaran“, passend benannt nach einem Boot mit drei Rümpfen, gleitet über sanfte Wellen – meditativ und doch voller Dynamik. Musik, die einlädt, das Konzept von Raum und Zeit zu verwerfen. Kopfnicken oder Augen schließen. Zu sphärisch für Jazz, zu kantig für Ambient: „Plunge“ bietet entspannte Flächen, in die man sich fallen lassen kann, und Strukturen, die Konzentration belohnen.

Das Album und Konzerte

Flur: „Plunge“ (Latency/!K7/Indigo).

Live: 31. 10., Überjazz Festival, Hamburg; 1. 11., Jazz Montez, Frankfurt am Main

Man kann sich völlig verlieren, wegdriften und meditativ entspannen – oder aufmerksam zuhören und den feinen Detailreichtum dieser feingliedrigen Musik entdecken. Beides funktioniert, beides macht Spaß. Ein starkes Debüt eines Ensembles, das Spiritual Jazz ohne falsche Ehrfurcht in die Gegenwart weiterdenkt und eine klare, eigenwillige Handschrift erwarten lässt.

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