Jehona Kicajs Debütroman „ë“: Entkommen aus der Sprachlosigkeit
Jehona Kicaj erzählt von einer Jugend in Deutschland als Kind von aus dem Kosovo Geflohenen. Das Debüt steht zu Recht auf der Shortlist zum Buchpreis.
Der Titel des Debüts ist so ungewöhnlich wie mit Bedacht gewählt: „ë“ lautet er, und dies ist ein im Albanischen wichtiger Buchstabe, obwohl er nicht ausgesprochen wird. Er verändert aber die Betonung des Wortes, an das er angehängt wird.
Das Unausgesprochene hat also eine Wirkung. Und von den Folgen und Wirkungen dessen, was unausgesprochen bleibt, worüber Schweigen herrscht, erzählt die 1991 im Kosovo geborene und in Deutschland aufgewachsene Autorin Jehona Kicaj.
Kicaj umkreist in ihrem Roman, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises steht, die Geschehnisse des Kosovokriegs 1998/99, das Schweigen darüber und den Schmerz derer, die den Krieg selbst erlebten, und jener, die ihn aus der Diaspora wahrnahmen. Sie erzählt aus der Perspektive ihrer namenlosen Ich-Erzählerin, die bereits Anfang der 90er Jahre als kleines Kind mit ihrer albanischen Familie aus dem Kosovo nach Deutschland floh. In der Erzählgegenwart hat sie kürzlich ihr Lehramtsstudium beendet.
Anspannung der Kiefer
Der Roman setzt mit einer Szene beim Zahnarzt ein, die Erzählerin leidet an Bruxismus, einer extremen Anspannung der Kiefer, der Arzt prognostiziert eine mögliche Unfähigkeit zu sprechen. An diesem Morgen „habe ich einen Splitter im Mund. […] Ich spucke ihn ins Waschbecken und sehe: Es ist ein kleines Stück Zahn. […] Jeden Morgen wache ich mit Schmerzen in den Kiefergelenken und im Nacken auf; kann meinen Mund nicht öffnen, ohne dass es laut kracht. Es hört sich an, als würden Knochen brechen.“
Jehona Kicaj: „ë“. Wallstein Verlag, Göttingen 2025, 176 Seiten, 22 Euro
Wie klug gewählt dieser Einstieg ist, wie zentrale Themen und Motive sich hier schon andeuten, offenbart sich im Verlauf der Lektüre. Die drohende körperlich bedingte Sprachlosigkeit korrespondiert mit jener, die aufgrund von Traumata und Verdrängung erwächst.
Kicaj umkreist viele Varianten von Sprachlosigkeit und Schweigen, und es ist wiederum der Körper, der spricht, wenn die verbale Sprache ausbleibt. Wir werden erfahren, wie Knochen sprechen. Und natürlich ist die ungeheure Anspannung der Erzählerin Ausdruck von etwas, das sie umtreibt.
In Rückblenden, Erinnerungen, die nicht chronologisch erzählt, sondern assoziativ miteinander verbunden sind und denen etwas Fragmentarisches eigen ist, entfaltet Kicaj Kindheit, Jugend und Gegenwart ihrer Erzählerin. Das Kind, das sich das rollende „R“ abtrainiert, um bloß nicht aufzufallen; das lange schweigt: „Ich habe mir gewünscht, mein Schweigen könnte mich unsichtbar machen“, auch weil das deutsche Umfeld oft unsensibel reagiert, eine Lehrerin sie etwa auffordert, von den Kriegserfahrungen der Verwandten im Kosovo zu erzählen.
Mit dem Schweigen vertraut
Das Mädchen, dem das Schweigen vertraut ist, denn an der serbischen Grenze war die albanische Sprache gefährlich. Das Weinen der Mutter während der Telefonate mit Angehörigen im Kosovo und ihr Schweigen danach, ihr seltenes Sprechen. Das Schweigen der Familie nach dem Krieg über den verschwundenen Großvater, welches es spürt, doch nicht zu fragen wagt.
Mühelos verknüpft die Autorin die verschiedenen Zeitebenen miteinander. In der Erzählgegenwart besucht die Erzählerin die Vorträge einer Forensikerin, Dr. Korner, die im Kosovo Leichen der Verschwundenen aus Massengräbern barg, anhand der Skelette deren Identität und Todesumstände rekonstruierte.
Das Schweigen der Toten ist endgültig, doch „Im Grunde sind wir Übersetzer der Sprache des Skeletts“, erzählt diese Dr. Korner von ihrer Arbeit. Die Knochen sprächen, ja sie schrien einen an. Sie verweist auf die besondere Aussagekraft des Gebisses, da es einzigartig wie ein Fingerabdruck sei.
Es sind Passagen von großer Intensität. Das Leid der Einzelnen wird sichtbar. Ihnen Würde zurückzugeben, den Angehörigen die Möglichkeit zur Trauer zu eröffnen, diese Anliegen werden greifbar. Hinter all dem aber auch das Ziel, die Mörder nicht davonkommen zu lassen.
Fein verbindet Kicaj hier die Metaebene mit der Familiengeschichte der Erzählerin über das Motiv der Murmeln: die Dr. Korner bei einem toten Jungen findet, die überleiten zu den Murmeln des überlebenden Cousins und von dort wieder ins große Geschehen des Kriegs führen. Es ist ein Beispiel für die dichte, kluge Webart des Textes, dafür, wie Motive sich bespiegeln, in verschiedenen Kontexten aufgegriffen werden.
Empfindungen in klaren Sätzen
Der gesamte Text verknüpft auf beeindruckende Weise das Persönliche mit dem Überindividuellen des Kriegs, vermittelt dabei auch Wissen. Kicaj bindet es geschickt in den Erzählfluss ein: die Verbrechen, die serbische Einheiten an der albanischen Zivilbevölkerung begingen, deren Brutalität; die gesellschaftlichen Verhältnisse schon vor Ausbruch der Kriegshandlungen, jene nach dem Krieg; der Nato-Einsatz.
Der Ton der Erzählerin ist meist fast sachlich. Doch scheinen ihre Empfindungen in einzelnen, klaren Sätzen auf: „Ich komme von einem Ort, der verwüstet worden ist. Ich wurde in einem Haus geboren, das niederbrannte. Ich hörte Schlaflieder in einer Sprache, die unterdrückt wurde. […] Ich komme aus der Sprachlosigkeit.“
Jehona Kicajs eindrucksvolles Debüt findet Wege aus dieser Sprachlosigkeit und stellt sich dem Vergessen entgegen.
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