Joachim Bauer über den freien Willen: „Der Mensch ist die stärkste Droge“

Wie die Medizin die Selbstheilungskräfte von Kranken mobilisieren kann, erklärt der Freiburger Hirnforscher und Bestsellerautor Joachim Bauer.

Hinter einer trüben Glaswand gibt eine Hand die Richtung vor

Selbst den Weg bestimmen und nicht von äußeren Reizen treiben lassen. Foto: imago/Westend61

taz: Herr Bauer, wir sitzen in einem Freiburger Café, und Sie haben Kräutertee und Brezel bestellt. Keine Kaffee- oder Zuckersucht – sind Sie ein völlig selbstgesteuerter Mensch?

Joachim Bauer: Nein, Selbststeuerung ist ja keine absolute Größe. Wir leben in einer Welt mit Reizen, Stimuli und Warenangeboten, der auch ich nicht entrinnen kann. Es geht um die Nutzung unserer Freiheitsräume, die wir durch Stopp von Reiz-Reaktions-Abläufen erweitern können. Eine Studie verglich zwei Probandengruppen: eine mit einem hedonischen Lebensstil, die alles sofort haben wollen, die andere mit einem eudaimonischen, reflektierenden Alltagsverhalten. Bei Hedonikern werden Gene aktiviert, die ein höheres Risiko für Entzündungen, Herzkrankheiten, Krebs und Demenz beinhalten. Bei Eudaimonikern mit hoher Selbststeuerung war es umgekehrt, sie waren viel gesünder.

Was unterscheidet Selbststeuerung von Selbstdisziplin?

Disziplin und Selbstdisziplin wird in autoritären Staaten topdown ausgeübt. In Deutschland geschah das von etwa 1870 bis 1950 durch „schwarze Pädagogik“ und Prügelstrafen. In den westlichen Konsumgesellschaften von heute haben wir umgekehrt zu viel Bottom-up-Verführungen, auf das unser Basissystem der Triebe und Affekte reagiert. Wenn wir jedoch über ein gut entwickeltes Top-down-System im präfrontalen Cortex hinter der Stirn verfügen, steuert es das Triebsystem. Selbststeuerung meint also Fürsorge für beide Fundamentalsysteme, eine gute Balance zwischen ihnen. Und ein Gefühl dafür, was uns mittel- und langfristig gut tut, etwa Verbundenheit, gute Ernährung, sexuelle Erfüllung. Mein Buch ist ein Aufruf, bewusst auszuwählen, lustvoll à la carte zu leben. Das heißt aber auch zu warten, wenn die Küche mal kalt ist, und auf Junkfood zu verzichten.

Wenn ich jetzt auf Kuchen verzichte, hat mein präfrontaler Cortex mein Reptiliengehirn niedergekämpft?

So ähnlich. Wir können reflektieren, entscheiden, Alternativen antizipieren. Das ist Teil der biologischen Bestimmung des Menschen, dass er den Perspektivwechsel beherrscht. Das kann er aber nur, wenn er immer wieder innehält. Der präfrontale Cortex entwickelt sich dann optimal, wenn Kinder gute Eltern haben und ein ganzes Dorf miterzieht.

In der glitzerbunten Welt der Waren und Verführungen ist das schwer.

Ja. Wir werden überflutet von medialen Reizen, die auf schnelle Antworten zielen.

Der Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut (64 J.) ist Professor an der Universität Freiburg. Sein neuestes Buch: „Selbststeuerung – Die Wiederentdeckung des freien Willens“, erschien im Blessing Verlag, München, 2015, 238 Seiten, 19,99 Euro.

Ich bin süchtig nach dem „Pling“ neuer Mails, obwohl mich die Mailflut nervt. Wenn ich „Pling“ höre, bin ich ständig versucht nachzuschauen, wer mir jetzt schreibt.

Das geht mir auch so. Darin besteht der Sex dieser Geräte, dass sie uns konditionieren, schnell auf sie zu reagieren. Medien sind Opium fürs Volk geworden. Aber es geht mir nicht um Askese und Abschalten. Wir müssen den Umgang mit sozialen Medien lernen. So sehr ich meinen Kollegen Manfred Spitzer schätze – ich halte nichts von seinem Appell, alle elektronischen Geräte auf den Müll zu schmeißen.

Wie verhindert man Mediensucht bei Kindern?

Sie sollten das Betrachten und Staunen lernen können, die Natur beobachten oder Musik machen, Bücher lesen, statt in flackernde Bildschirme zu schauen. Auch Meditationstechniken und Achtsamkeitstrainings an Schulen sind gut. Und in den Kitas ein guter Betreuungsschlüssel. Kinder müssen gesehen, gespiegelt, angeleitet, ermutigt werden.

Wie kann vor diesem Hintergrund eine ökosoziale Transformation gelingen?

Wir leben in einer in vieler Hinsicht süchtigen Gesellschaft, doch immer mehr Menschen empfinden „Überdruss am Überfluss“. Sie treten für Selbstbestimmung und Selbststeuerung ein, für Zeitwohlstand, Muße und eine „Ethik des Genug“, die sich etwa im „Degrowth“-Kongress gezeigt hat.

Kann man Selbststeuerung wie einen Muskel trainieren?

Ja. Wir haben eine tiefe neurobiologische Verwurzelung zwischen Ich und Du. Ein Säugling kann nur dann ein Ich entwickeln, wenn es in einer Betreuungsperson ein empathisches Du findet. Wenn ein Kleinkind hinfällt, schaut es oft zuerst in das Gesicht der Mutter, um sich zu vergewissern, wie es das Geschehen beurteilen soll. Wir erleben uns immer ein Stück weit so, wie uns andere sehen, und umgekehrt. Diese Ich-Du-Netzwerke sitzen im basalen Part des präfrontalen Cortex, ihre Größe korreliert bei Erwachsenen mit der Größe ihres sozialen Netzwerks.

Hat dieser Sozialmuskel auch Schwächen?

Wir sind soziale Tiere, was auch ein Verführungspotenzial beinhaltet. Wir kopieren, was andere tun, und werden schnell zum Mitläufer, wie unter Hitler. Aber über diese Koppelung können wir auch andere stärken, wenn sie geschwächt sind. Und wir können sagen: Ich mache da nicht mit! Vierjährige Kinder müssen deshalb durch die Trotzphase hindurch, sie müssen lernen, nein zu sagen.

Manche Hirnforscher behaupten aber, es gebe keinen freien Willen.

1983 ließ der US-Hirnforscher Benjamin Libet Versuchspersonen entscheiden, wann sie eine Taste drücken würden, und fand in ihren Hirnstromkurven etwa 0,8 Sekunden vorher einen Anstieg des sogenannten Bereitschaftspotenzials. Daraus zogen meine geschätzten Kollegen Gerhard Roth und Wolf Singer den falschen Schluss, der freie Wille existiere nicht. Mit weitreichenden Folgen: Menschen, denen man den freien Willen abspricht, verhalten sich tatsächlich verantwortungsloser. Im Buch beschreibe ich jedoch, dass das Bereitschaftspotenzial nichts zu tun hat mit einer den freien Willen unterlaufenden Vorentscheidung des Gehirns.

Werden wir durch Selbststeuerung gesünder?

Ja. Diese Koppelung ist eine riesige Chance für Selbstheilung. Viele Patienten sind durch ihre Krankheit psychisch geschwächt und befinden sich im Kindmodus, schauen also zu Ärzten hinauf. Die können durch Zuwendung ihre Selbstkräfte stärken. Dann darf man aber nicht so dumme Sachen sagen wie: „Sie leben nur noch sechs Monate“, das wird zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Umgekehrt gibt es ein enormes salutogenetisches Potenzial durch Placebo-Wirkungen, durch Wortwirkungen.

Worte sind Placebos?

Der Satz „Das wird Ihnen helfen“ hat eine hohe gesundheitsfördernde Wirkung. Unter dem Titel „Wie Placebos das Hirn von Patienten verändern“ hat der Turiner Neurologe Fabrizio Benedetti eine spektakuläre Studie mit Parkinson-Patienten veröffentlicht. Sie waren zuvor an einen Apparat angeschlossen worden, der durch Nervenreizung die Ausschüttung von Dopamin anregte, um ihre Symptome zu lindern. Wenn man ihnen sagte, dass der Apparat abgestellt sei, obwohl er weiterlief, dann verstärkten sich ihre Symptome wieder. Wenn man umgekehrt sagte, er laufe weiter, obwohl er abgestellt war, verbesserte sich ihr Zustand.

Was heißt das für das Gesundheitssystem?

Der Mensch ist die stärkste Droge für andere Menschen – durch Wörter, Blicke, Körpersprache. Mediziner sollten immer den inneren Arzt des Patienten ansprechen, seine Selbstheilungskräfte. Paramedizinische Heiler machen auch nichts anderes. Schamanen versprechen Kranken: Ich kann einen Prozess organisieren, der dir hilft. Vertraue mir als mächtige Figur. Wir hier machen das nicht mit Straußenfedern, sondern mit weißem Kittel und goldenem Füller. Es gibt also keinen Grund, Schamanen zu verurteilen. Kranke sind bedürftig, sie sollten die beste psychologische Betreuung in Kombination mit guten Apparaten bekommen.

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