Journalist Jürgen Leinemann gestorben: Einfühlsamer Demokrat

Der langjährige Spiegel-Reporter erlag im Alter von 76 Jahren dem Krebs. Seine berühmten Politiker-Portraits werden der Medienlandschaft fehlen.

Vielfach preisgekrönt: Jürgen Leinemann. Bild: dpa

BERLIN taz | Sucht und Macht – das waren die Lebensthemen des langjährigen Spiegel-Reporters Jürgen Leinemann, der im Alter von 76 Jahren am Wochenende in Berlin gestorben ist. Wen so etwas fasziniert, der hätte leicht zum Zyniker werden können. Nicht Leinemann. Er schaute genau hin, seziererisch sogar, aber er blieb einfühlsam. Noch bei der schärfsten Kritik respektierte er stets die Würde seines Gegenüber.

Vielleicht konnte er deshalb so viel Verständnis für die Schwächen anderer aufbringen, weil er die eigenen nicht verleugnete. Schreiben war für ihn auch ein Prozess der Eigentherapie. Mit seiner Alkoholkrankheit ging er ebenso offen um wie Jahrzehnte später mit seiner Krebserkrankung. Manche Kritiker warfen ihm deshalb eitle Selbstentblößung vor.

Aber viele Menschen, die in ähnlicher Lage waren oder sind wie er, empfanden es als befreiend, dass ein prominenter Journalist sie mit seinen Bekenntnissen wenigstens teilweise vom Stigma der Ausgestoßenen befreite, unter dem Kranke oft leiden. Gerade mit seinen persönlichen Texten hat Jürgen Leinemann ein Verständnis von Demokratie an den Tag gelegt, deren Eckpfeiler das Recht des Einzelnen auf Schwäche und Unvollkommenheit ist.

Die Demokratie gefördert hat der vielfach preisgekrönte Journalist auch mit seinen berühmten Porträts. In denen erweckte er subjektiv Verständnis für handelnde Personen und bekämpfte damit ein apolitisches Ressentiment gegen „die da oben“. Leinemann hat politische Verhältnisse über die Akteure abgebildet, Strukturen und ökonomische Interessenkonflikte waren nicht sein Thema. Das kann man mit Recht für ein verkürztes Verständnis von Politik halten. Aber wer heute alte Texte von ihm liest – auch über Leute, die längst vergessen sind – , der riecht und schmeckt das Klima von einst. Von wie vielen Wirtschaftsanalysen lässt sich das sagen?

Manchmal ist Leinemann mit einem einzigen Satz eine so umfassende Charakterisierung gelungen, dass weit ausführlichere Analysen davor verblassen. „Seinen Körper hat er zu einem Schutzschild getrimmt, den er mit ’gewaltigen Mahlzeiten‘ verdickt“, schrieb er vor 30 Jahren über Helmut Kohl. Hans-Dietrich Genscher hat er als einen Mann geschildert, „der den Finger in die Luft reckt, um zu sehen, woher der Wind weht, den er selbst macht.“ Über die Mitglieder des nächsten Kabinetts wird er nicht mehr schreiben. Leider.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.