Jüdisches Leben in Deutschland: Eine Erkenntnis mehr

Ein Kindergarten in Chemnitz pflegt jüdische Traditionen, steht aber allen Konfessionen offen. Für Chemnitz ein Schritt in die multikulturelle Zukunft.

Nach der Wende gab es in Chemnitz zwölf jüdische Gemeindemitglieder, heute etwa 600. Auch eine neue Synagoge gibt es. Bild: dpa

CHEMNITZ taz | Freitags kurz nach zwei beginnt das Ritual, dem viele Kinder die ganze Woche über entgegenfiebern. Eben sind sie aus dem Mittagsschlaf erwacht, haben sich das Gesicht gewaschen, sind in Hosen oder Röcke geschlüpft.

Jetzt bestürmen sie die Erzieherinnen Ellen und Galina. „Darf ich heute die Mama sein?“ – „Darf ich der Papa sein?“ Ellen Sohr, schmal, dunkle Haare, starker Lidstrich, schaut auf einen Zettel. Jeden Freitag notiert sie, wer zum Sabbat in die Rollen der Familienoberhäupter schlüpft.

Richtig, Marcel und Xenia waren lange nicht dran. „Willst du heute der Papa sein, Marcel?“ Der blonde Junge nickt. Er hatte sich gar nicht vorgedrängt. Jetzt bekommt er einen Hut auf, Xenia ein Kopftuch umgebunden. Beide nehmen an der Stirnseite der Tafel Platz, die mit Tischtüchern und Leuchtern geschmückt ist.

1885 als Körperschaft öffentlichen Rechts gegründet, zählte die Jüdische Gemeinde von Chemnitz im Jahr 1899 tausend Mitglieder. Sie stammten aus Deutschland, Rumänien, Russland, Österreich, Galizien und Polen. 1923 war sie auf 3.500 Mitglieder angewachsen. 1945 kehrten 57 Chemnitzer Juden aus den Todeslagern oder dem Exil zurück. 1989 zählte das damalige Karl-Marx-Stadt nur 12 jüdische Einwohner, der jüngste davon 60 Jahre alt. 2002 wurden in der Stollberger Straße 28 eine Synagoge und ein Gemeindezentrum eingeweiht. Heute leben mehr als 600 Menschen mit jüdischen Wurzeln in Chemnitz. Viele stammen aus Russland und der Ukraine.

Auch die anderen Kinder und die Erzieherinnen sitzen jetzt. Erstaunlich ruhig ist es geworden. Ellen Sohr nimmt das Blatt mit den Segenssprüchen, die zum Sabbat gesprochen werden.

Nicht alle sind registriert

18 Kinder zwischen zwei und fünf Jahren gehen in den jüdischen Kindergarten von Chemnitz. Für die sächsische Stadt ist das ein wichtiger Schritt in Richtung multikulturelle Zukunft. Das einstige Zentrum jüdischen Lebens hatte während der Nazizeit fast alle seine jüdischen Einwohner verloren. 1989 zählte Karl-Marx-Stadt, wie Chemnitz während der DDR-Zeit hieß, noch 12 jüdische Bürger. Inzwischen ist die Gemeinde auf mehr als 600 Mitglieder angewachsen. Das ist den Einwanderern aus Russland und der Ukraine zu verdanken.

Eigentlich ist die jüdische Community sogar um einiges größer. Viele Migranten möchten sich aufgrund der Diskriminierung, die ihre Familien in der Vergangenheit erlebt haben, nicht bei der Gemeinde als Juden registrieren lassen: Es könnte ja wieder anders kommen. Außerdem haben viele Einwanderer kaum noch einen engen Bezug zum Judentum. Auch das ist ein Grund, sich nicht bei der Gemeinde anzumelden. Damit nun die Kleinsten ihre Wurzeln kennenlernen, setzt sich Ruth Röcher, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, sehr für den Kindergarten ein: Im Herbst 2011 wurde er mit großzügiger Unterstützung der Stadt Chemnitz eröffnet.

Er befindet sich im Stadtteil Am Sonnenberg, in demselben Gebäude, in dem auch ein städtischer Kindergarten untergebracht ist. An der Wand hängt ein Bord mit israelischen Flaggen, steht eine Menora. Ein von Kinderhand liebevoll gemaltes Plakat informiert über jüdische Feste und in welche Jahreszeit sie fallen. Eine Köchin bereitet eigens für die Kinder koschere Speisen zu. Heute hat sie außerdem zwei Challot gebacken. Die mit Mohn bestreuten Hefeteigzöpfe werden am Sabbat verspeist.

Ellen Sohr hat einen Segensspruch vorgetragen. Nun schneidet sie ein Challa an. „Möchtet ihr Schokoladenmarmelade oder Marmelade auf euer Challa?“, fragt sie und artikuliert dabei überdeutlich, damit auch die Kinder mit einer anderen Muttersprache sie gut verstehen. Gezielte Sprachförderung gehört zum Konzept des Kindergartens.

Das in der DDR vermittelte Wissen war düftig

Marcel, der Papa, darf als Erster koscheren Traubensaft trinken. So will es die Tradition. Andächtig setzt er das Gefäß an die Lippen. „So, jetzt dürft ihr auch!“, sagt Ellen Sohr. Die Kinder kennen das Ritual, obwohl viele den Sabbat nicht mit ihren Eltern feiern. Einige von ihnen kommen gar nicht aus jüdischen Familien. Der Kindergarten nimmt Mädchen und Jungen aus christlichen und atheistischen Familien auf, sofern Plätze frei sind.

Die Chemnitzer, die ihre Kinder anmelden, möchten, dass diese von klein auf Toleranz lernen. Das funktioniert auch, wie der katholische Vater eines Mädchens berichtet. Er erklärt seine Entscheidung, seine Tochter in diesen Kindergarten zu bringen, mit den gemeinsamen Wurzeln von Juden und Christen im Alten Testament: „Die Juden sind unsere älteren Brüder.“ Über das Judentum habe er in der DDR-Schule wenig erfahren, berichtet er weiter. Die Lehrer klärten ihn vor allem darüber auf, dass Israel ein „Klassenfeind“ sei.

Die Erzieherin Annett Helbig hat den DDR-Unterricht in ähnlich dürftiger Erinnerung. Über den Holocaust hätten sie gesprochen, doch mit der reichen jüdischen Kultur und Tradition wären sie kaum in Berührung gekommen. Helbig ist Jahrgang 1963. Nach der Wende bildete sie sich in ihrem Beruf fort, zog nach Schleswig-Holstein. 13 Jahre lang leitete sie dort einen multiethnischen, multireligiösen Kindergarten.

Eines Tages fand sie eine Stellenanzeige: Die Jüdische Gemeinde in Chemnitz suchte für ihren neuen Kindergarten eine Leiterin. Die konfessionslose Annett Helbig bekam den Job. Wie auch die anderen Mitarbeiterinnen hat sie sich intensiv mit dem Judentum auseinandergesetzt. Sie fahren regelmäßig zu Weiterbildungen. Helbig hat zudem in den Jüdischen Kindergärten von Dresden und Leipzig hospitiert. „Wenn man sich beliest, hat man das eine oder andere Mal eine Erkenntnis mehr als die Menschen, die ihre jüdische Religion eigentlich nie ausleben durften“, sagt sie und meint damit die Einwanderer.

In der Sowjetunion wurden ihre Religion praktizierende Menschen angefeindet, egal ob sie Christen, Juden oder Muslime waren. Der Diktator Stalin ließ Pfarrer, Rabbiner und Imame und viele andere Gläubige ermorden. Nach seinem Tod endete der blutige Terror, doch die Diskriminierung ging weiter. Ihr Vater habe nicht seinen Wünschen gemäß Physik studieren dürfen, erzählt Julia Kalika-Taraschuk, deren Tochter Marlene den Kindergarten besucht. Marlenes Großvater durfte nicht an eine Uni, sondern wurde nach längerer Wartezeit nur an einer Hochschule zugelassen. Immerhin konnte er Ingenieur werden.

Hilfe aus dem Westen

Nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 ermordeten die Nazis Tausende Sowjetbürger jüdischer Herkunft. Dennoch wurde das jüdische Leben nicht völlig ausgelöscht. Julia Kalika-Taraschuk stammt aus Kischinjow, das heute die Hauptstadt der Republik Moldau ist. Diese Stadt gilt noch immer als Hochburg jüdischer Kultur wie auch das ukrainische Odessa, aus der Julias Mann Igor Taraschuk stammt. Nach der Wende unterstützten Juden aus dem Westen, vor allem den USA, ihre Glaubensbrüder in Osteuropa. Mit ihrem Geld wurden Gemeindezentren aufgebaut, Gebäude saniert. Dennoch bekamen jüdische Menschen die Intoleranz ihrer Mitbürger in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion häufiger zu spüren.

Auch aus diesem Grund sind in den vergangenen Jahren viele Familien nach Deutschland eingewandert. Igor und Julia kamen mit ihren Eltern unabhängig voneinander 1995 und 1999 nach Sachsen. Julia Kalika-Taraschuk ist heute 30 Jahre alt und studiert an der TU Chemnitz Technikkommunikation. Ihr Mann Igor, 33 Jahre alt, arbeitet bei einem Unternehmen, das Geschäftskontakte nach Russland unterhält. Die dreijährige Marlene, ein Mädchen mit lustigen blonden Zöpfen, geht gern in den jüdischen Kindergarten. „In jüdischen Institutionen ist die Atmosphäre besonders schön“, sagt Julia schwelgerisch.

Auch sie hat in Kischinjow vier Jahre lang eine jüdische Schule besucht. Die Familie ihres jüdischen Vaters beging die traditionellen Feste. Julias Mutter, einer Russin, gefiel das, und sie machte gerne mit. Da ihre Mutter nicht jüdischen Glaubens ist, ist Julia Kalika-Taraschuk bis heute nicht Mitglied der Jüdischen Gemeinde Chemnitz. Sie bedauert das. Aber die traditionellen Regeln sehen es so vor: Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat und sich zum jüdischen Glauben bekennt.

Zu beschreiben, was ihre jüdische Identität ausmacht, fällt den Taraschuks schwer. In ihrem Alltag spiele die Religion kaum eine Rolle. „Wir feiern den Sabbat nicht“, sagt Igor Taraschuk in einem Deutsch, dem anzumerken ist, dass er seit 18 Jahren in Sachsen lebt. Nur drei, vier Mal im Jahr geht die Familie in die Chemnitzer Synagoge. Trotzdem fühlen sich die Taraschuks als Teil der jüdischen Community, schwärmen vom jährlichen Chanukka-Ball. Mit der jüdischen Erziehung ihrer Tochter führen sie eine Familientradition fort.

Igor Taraschuk erinnert sich positiv an die jüdische Sonntagsschule in Odessa: „Dafür bin ich mit neun Jahren allein durch die ganze Stadt gefahren.“ Als Ruth Röcher Mitte der 1990er Jahre in Chemnitz Religionsunterricht anbot, war Igor Taraschuk, damals noch Jugendlicher, ihr erster Schüler.

Anfangs kam keiner

Ruth Röcher ist promovierte Religionspädagogin. 1994 zog sie mit ihrem Mann von Nordrhein-Westfalen nach Chemnitz. „Ich wurde Mitglied Nr. 11“, erzählt sie. Von den 12 Gemeindemitgliedern, die es 1989 noch gab,waren mehrere verstorben. Doch nun kamen die Einwanderer nach Chemnitz, darunter auch die Familie von Igor Taraschuk.

Ruth Röcher kümmerte sich voller Elan um die Kinder. Seit 2006 ist sie Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde. „Wenn wir die Altersstruktur betrachten, hätten wir zuerst ein Jüdisches Altersheim einrichten müssen“, sagt sie. „Doch alle wissenschaftlichen Untersuchungen haben gezeigt, dass der Kindergarten das A und O ist.“

Am 1. September 2011 saßen Annett Helbig und die anderen Mitarbeiterinnen allein in den schönen, hellen Räumen des neuen Kindergartens. Nach ein paar Tagen schickte ihnen die Stadtverwaltung zwei Mädchen. Die Einwanderer blieben skeptisch. Was für ein pädagogisches Konzept hatten die Erzieherinnen? Sprachen sie Deutsch oder Russisch mit den Kindern? Erst langsam wuchs das Vertrauen.

Dazu trug die Mund-zu-Mund-Propaganda in der Gemeinde bei. Und auch, dass die Erzieherinnen erfolgreich die Deutschkenntnisse der Kleinen fördern. Gleichzeitig beschäftigt der Kindergarten russische Mitarbeiterinnen. Wenn eines der Kinder weint, hört es ein tröstendes Wort in seiner Muttersprache. Die Kinder sind schließlich in mehreren Kulturen zu Hause.

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