Justiz entscheidet über Fahrverbote: Mehr Luft!

Ein Tag am ­sechsspurigen Stuttgarter Neckartor – zwischen Diesel, Lärm, einem Studentenwohnheim und der „Schwabengarage“.

Breita Straße mit vielen Autos im Halbdunkel

60.000 Autos täglich: die Bundesstraße 14 am Neckartor Foto: Boris Schmalenberger

STUTTGART taz | Bevor die Stadt zum Leben erwacht, müssen viele der Menschen erst einmal hineinkommen. Morgens um sieben liegt noch Dunkelheit über dem Stuttgarter Kessel, aber die Kreuzung „Am Neckartor“ ist von den Scheinwerfern der Autos hell erleuchtet. Tausende rollen hier jeden Morgen in die Stadt und jeden Abend wieder hinaus. Meistens sitzen die Fahrer alleine in ihren Autos. Im Puls der Ampelschaltungen passieren sie die Mooswände in der Cannstatter Straße, rechts der Stadtpark, links das gigantische Autohaus mit dem schönen Namen „Schwabengarage“, vorbei am orangefarben gestrichenen Studentenwohnheim, vor dem Deutschlands wohl berühmteste Messstation die Luftqualität misst.

Sie passieren das Amtsgericht, den ADAC, der ausgerechnet hier seine Zentrale hat, und das Innenministerium rechts, das die Atemluft für seine Beamte möglichst hoch über dem Verkehr ansaugt und sorgfältig filtert. Dann geht es weiter im Verkehrskanal auf der Museumsmeile. Dort gähnt der Krater der Baustelle von Stuttgart 21. Von da an verteilt sich die Autoschlange überallhin in die große Stadt.

Das Neckartor gilt als Deutschlands schmutzigste Kreuzung. 60.000 Autos passieren sie im Durchschnitt jeden Tag. Hier führt die Bundesstraße 14 führt sie in die Landeshauptstadt, und vorher sammelt sie all jene ein, die es von den drei Autobahnen in die Schwabenmetropole zieht. Es ist das Einfallstor für die Pendler aus dem Norden, Osten und Westen.

Wenn am Neckartor die Grenzwerte nach oben klettern, ist Feinstaubalarm. Andere Städte hängen ein Banner auf, wenn der Karnevalsumzug ansteht oder Helene Fischer sich zum Open-Air-Konzert angekündigt hat. In Stuttgart hängen sie ein quietsch-orangenes Stück Kunststoff an die Fußgängerbrücke über der Neckarstraße, wenn dicke Luft droht: „Feinstaubalarm in Stuttgart ab Montag, den 05. 02.“

Grenzwerte immer wieder gerissen

Die Werte sind über das Wochenende zurückgegangen. In der Woche davor lagen die Mess­ergebnisse noch satt über dem Grenzwert von 50 Mikrogramm. Seit Jahren klagen die Anwohner gegen Stadt und Land, die EU-Grenzwerte endlich einzuhalten. Die Stadt versucht es mit speziellen Reinigungsmaschinen und der Mooswand, die den Feinstaub binden soll. Es hilft ein wenig. Aber die Grenzwerte werden trotzdem an viel zu vielen Tagen gerissen. Dann gilt Feinstaubalarm und damit der Appell, das Auto stehen zu lassen. Wie viele das befolgen und was es bringt, weiß niemand so genau.

Damals, als der Ärger mit dem Dieseldreck begann, regierte noch die CDU in Stadt und Land. Inzwischen stellen die Grünen den Ministerpräsidenten und den Oberbürgermeister. Geändert hat das wenig. Gemeinsam haben die Politiker aller Parteien in der Autostadt, dass sie sich vor nichts so sehr scheuen wie vor Fahrverboten. Immerhin haben Daimler und Porsche in der Schwabenmetropole ihre Zentralen. Und wenn die husten, so heißt es, dann habe das ganze Land Schnupfen.

Peter Erben

„Wenn die Werte zu hoch sind, ist es das Wetter; wenn sie stimmen, liegt es an den Maßnahmen“

„Pfff, die Politik“. Carsten Bruhn steht mit einem mitleidigen Blick im Eingang des Studentenwohnheims, keine 30 Schritte entfernt von der Messstation. Auf den Briefkästen der Studierenden liegen dutzendfach Benachrichtigungen der Paketdienste. Die Lieferungen werden wohl erst nach den Semesterferien abgeholt. Bruhn ist hier der Hausmeister. Auf das Flachdach des Zweckbaus hat er schon viele Wissenschaftler und Politiker geführt. Von den Messungen hält der Hausmeister nicht viel. Es sei doch absurd, sagt Bruhn, da stelle man die Messstation in eine Ecke, wo die Luftverwirbelungen mit Sicherheit für falsche Ergebnisse sorgten, sagt er.

Die schwarzen Filter im Studentenwohnheim

Damit will Bruhn nichts beschönigen. Dass die Luft hier schlecht ist, wisse man ja. Der Hausmeister sieht den Schmutz jeden Tag bei seiner Arbeit. Alle drei Monate muss er die Filter in den Studentenapartments austauschen, weil sie mit schwarzem Staub verklebt sind. Zum Beweis schraubt er einen Filter aus der Decke einer Toi­lette und zeigt die schwarz-pelzige Schicht in dem Filtergewebe. Das gleiche Bild gäbe es wohl, wenn man die Filter in den Fensterrahmen jedes Apartments ausbauen würde. Aber da hat sich seit der Einweihung des Gebäudes vor elf Jahren keiner mehr herangewagt. Bruhns lächelt sarkastisch. Er habe vorgeschlagen, die einfach mit einem Dampfstrahler durchzupusten. Aber dann müsste man ja die ganze Wohnung dahinter anschließend reno­vieren.

Ein Mann sitzt vor seinem Schaufenster im Zimmer

Laufkundschaft ohne Ende: Philipp Scheffbuch in seinem Laden Foto: Boris Schmalenberger

Stefanie hat noch nie in die Filter ihres Apartments geschaut. Aber die Studentin weiß natürlich, dass sie hier an der schmutzigsten Straße des Landes wohne, sagt sie. Die junge Frau mit dunklen Haaren studiert seit einem Jahr Maschinenbau, seitdem wohnt sie im Studentenwohnheim. Am Anfang habe sie immer gedacht, sie hätte Schnupfen. Manchmal fand sie Spuren des schwarzen Staubs in ihrem Taschentuch. Ihre Atemwege hätten sich aber inzwischen daran gewöhnt, glaubt sie. Naja, und in Stuttgart sei man halt froh, wenn man überhaupt irgendwo halbwegs günstig wohnen kann. Den Platz im Wohnheim gibt es ab 285 Euro, für Stuttgart unschlagbar. Nur noch ein, zwei Jahre, wird sie hier wohnen, sagt Stephanie.

Richtig ist, dass sich die Luftqualität in Stuttgart wie in allen anderen deutschen Großstädten in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verbessert hat. Ältere Stuttgarter erinnern sich noch an die Smogwolke in den 1960er und frühen 1970er Jahren. Krupphusten war damals unter den Kindern kein Einzelphänomen. Das würde heute niemand mehr tolerieren, aber es ist noch lange kein Grund zur Entwarnung. Der Feinstaub-Grenzwert der EU gilt seit 17 Jahren.

Er wird längst nicht nur am Neckartor überschritten. Das Umweltbundesamt geht davon aus, dass in Deutschland jährlich 47.000 vorzeitige Todesfälle auf die zu hohe Feinstaubbelastung zurückzuführen sind. Deshalb hat die EU für die Partikel in der Luft den Grenzwert von 50 Mikrogramm in der Luft festgesetzt, er darf nur an 35 Tagen im Jahr überschritten werden. Am Stuttgarter Neckartor lag der Wert auch im letzten Jahr an 45 Tagen darüber. Immerhin, 2015 waren es noch 75 Tage. Die schlechte Luft wird also langsam besser, sagen Stadt und Land und hoffen, dass sich dieser Trend fortsetzt. Das sei zu wenig, sagen die Anwohner und auch Experten von der Deutschen Umwelthilfe, die sich nun einen Durchbruch beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig erhoffen.

Es ist früher Nachmittag. Der Verkehrsfluss hat Lücken bekommen, sodass man jenseits der Ampel gefahrlos die Neckarstraße überqueren kann.

Der Ladenbesitzer Philipp Scheffbuch

Philipp Scheffbuch schaut durch sein Schaufenster auf den Verkehrsstrom und sagt fast liebevoll: „Von hier gucke ich auf den Flow.“ Vor ihm die Stadtautobahn, links die Familienkasse, gegenüber Amtsgericht und ADAC. Hier an der U-Bahn-Haltestelle Neckartor, wo sich der Verkehr gabelt, hat Philipp Scheffbuch seinen Laden aufgemacht. Seit zwei Jahren verkauft er hier, fern ab von den bekannten Einkaufsstraßen, fair gehandelte Markenkleidung. Er sei ganz bewusst nicht in das In-Viertel rund um den Marienplatz gegangen, sagt Scheffbuch. An seiner Kreuzung gebe es vielleicht weniger Laufkundschaft, dafür verkaufe er hier in einer Lage mit extrem viel Verkehr. Wenn nur 0,1 Prozent von denen, die da jeden Tag an seinem Geschäft vorbeifahren, bei ihm mal reinschauen würden, dann würde sein Geschäft durch die Decke gehen. Er mag die Mischung hier, sagt Scheffbuch, der auch gleich um die Ecke wohnt: gute Res­taurants und Läden, aber Büdchen und Trash. Die Menschen seien hier immer ein bisschen auf der Durchreise.

Scheffbuch hat etwas Widerborstiges. Früher einmal war er Redakteur im Wirtschaftsressort der Stuttgarter Zeitung, erzählt er, aber die Beißhemmung seiner Zeitung vor der Autoindustrie habe ihn genervt. Als dann Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten fusionierten, findet er den Absprung in ein neues Leben und eröffnete seinen Laden. Er tauft ihn ausgerechnet „Schlechtmensch“. In seinem Blog teilt er kräftig gegen die Mächtigen der Stadt aus. Das dürfte zumindest sicherstellen, dass sich nicht die aus seiner Sicht Falschen in seinen Laden verirren.

Hier in der Stadt gehe ganz gehörig etwas schief, findet Scheffbuch. Stuttgart sei noch immer mit der mächtigen Autoindustrie verwachsen, auch die Grünen mit einem Ministerpräsidenten, der lieber mit Daimler-Chef Zetsche Lastwagen fährt, als Fahrverbote zu verhängen, und einem grünen Bürgermeister, der das Feinstaub-Problem komplett unterschätzt habe. Und dann ist da der Regierungspräsident mit grünem Parteibuch, der doch tatsächlich den Klägern gegen die Luftverschmutzung angeboten habe, ihnen Filteranlagen in die Wohnung zu bauen. Dabei wisse doch jedes Kind, dass die Feinstaubbelastung die ganze Stadt betrifft.

Gemessen wird aber nur am Neckartor und ein paar Kilometer stadteinwärts an der Hauptstätter Straße. Der Gesetzgeber verlangt Messungen dort, wo die höchste Belastung zu erwarten ist. Aber ob die Luft etwa am Marienplatz besser ist, dort wo die Stadtautobahn in den Heslacher Tunnel einmündet und im Sommer die Menschen unter freiem Himmel ihren Chai Latte trinken, ist höchst fraglich. Die Messungen sind komplex und ihre Interpretation erst recht. Verkehrsaufkommen, die Kessellage der Stadt, und die berühmte Inversionswetterlage beeinflussen sie.

Die Bürgerinitiative kämpft nicht nur fürs Neckartor

Für die Politik sei das ganz praktisch, sagt Peter Erben und grinst. „Wenn die Grenzwerte überschritten werden, ist das Wetter schuld; wenn sie eingehalten werden, liegt es an den Maßnahmen.“ Erben wohnt seit den 1970er Jahren in Stuttgart. Seit einigen Jahren ist der Handwerksmeister Chef der Bürgerinitiative Neckartor. Sie macht Front gegen die dortige Schadstoffbelastung, aber eigentlich geht es ihr gegen die Verkehrspolitik in ganz Stuttgart, einer Stadt, „die dem Automobil huldigt“. Sogar Tempel dieses bemerkenswerten Kults will Erben ausgemacht haben, wie die Schwabengarage oder die Museen von Porsche und Daimler, die jedes Jahr Tausende Jünger anziehen.

Ein Mann sitzt auf einem Stuhl

Peter Erben: „Die Stadt huldigt dem Automobil“ Foto: Boris Schmalenberger

Man solle ihn nicht missverstehen, sagt Erben. Als Handwerker sei er selbst auf den Lieferwagen angewiesen, einen Diesel immerhin mit Euro-6-Norm. Ihm komme es darauf an, den Individualverkehr in der Stadt zu reduzieren. Was wäre denn gewonnen, wenn alle Autos plötzlich elektrisch betrieben würden, fragt Erben. Dann wäre zwar die Luft besser, aber noch immer würde der Verkehr die Stadt dominieren.

Erben schließt die Tür zum Gemeindesaal der Friedenskirche auf. Hier trifft sich die Bürger­initiative einmal im Monat. Hier bereiten sie ihren autofreien Donnerstag für den 30. März vor. „Uns geht es nicht nur ums Neckartor“, sagt Erben. Er will verträgliche Verkehrslösungen für alle Stuttgarter, die die Stadt wirklich lebenswerter mache. Da sei die Luftverschmutzung nur ein Faktor neben anderen.

Das Neckartor ist für ihn ein Symbol dieses Ziels. Mit seiner sechsspurigen Stadtautobahn und den Unterführungen, die die Fußgänger unter die Erde zwingen, damit der Autoverkehr besser fließen kann, hält er es für ein Relikt aus alten Zeiten, aber eines, an das sich die Autostadt noch immer klammert. Dabei lägen die neuen Konzepte aus Städten auf dem Tisch: eine City-Maut, kostenloser Nahverkehr, all das könnte dazu beitragen, den Verkehr reduzieren.

Erben spricht leise und zurückhaltend. Zum Gemeindezentrum über dem Neckartor dringt kaum etwas von dem Verkehrslärm nach oben. Es ist später Nachmittag. Der Berufsverkehr hat längst wieder eingesetzt, jetzt fluten die Autos wieder aus der Stadt. Die Messstelle am Neckartor wird am nächsten Tag dennoch einen weiteren Rückgang der Feinstaubwerte melden. Der Alarm wird um Mitternacht fürs Erste beendet, das Warn-Banner an der Fußgängerbrücke ist verschwunden. Aus Berlin kommt derweil die Nachricht, die Große ­Koalition wolle den öffentlichen Nahverkehr künftig kostenlos anbieten, wenn der Schmutz überhandnehme. Erste Tests in Großstädten werden angekündigt. Stuttgart, die Autostadt, ist nicht dabei.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.