Kampf gegen den IS: „Wir hoffen auf die UNO“

Songül Tolan vom Zentralrat der Jesiden über die Lage im Nordirak, Unstimmigkeiten mit den Peshmerga und ihre Forderungen an die Regierung.

Eine junge Frau demonstriert in Oldenburg gegen den IS. Bild: dpa

Frau Tolan, wie sehr nehmen die Jesiden in Deutschland Anteil am Schicksal Ihrer Glaubensgeschwister im Nordirak?

Wir verfolgen das sehr intensiv, telefonieren mehrmals täglich in die Region und leisten aktiv Hilfe, sammeln Geld und Sachspenden und veranstalten Mahnwachen. Sie müssen wissen, das Jesidentum ist nicht bloß eine Religion, sondern eine Religionsgemeinschaft. Das sind unsere Gemeindemitglieder, unsere Brüder und Schwestern, die gerade diese extremen Qualen durchstehen müssen. Die Situation lässt uns verzweifeln, schweißt uns aber auch enger zusammen. Vor allem die jüngere Generation versteht jetzt zum ersten Mal die Geschichten ihrer Eltern von Verfolgung und Unterdrückung.

Während die Welt auf Kobane schaut, halten IS-Milizen im Nordirak die letzten im Sindschar-Gebirge verbliebenen Jesiden seit Wochen eingekreist. Wer harrt denn da noch aus?

Im Ort Sherfedin, der zweitwichtigsten Pilgerstätte der Jesiden, befinden sich noch 3000 Soldaten der jesidischen Bürgerwehr unter Leitung des deutschen Generals Qasim Shesho sowie 7000 Zivilisten, die seit Wochen von IS-Einheiten umzingelt sind. Sie haben Zugang zu einer Wasserquelle, aber sind in großer Not. Die Munition geht den Kämpfern aus, manche hatten am vergangenen Montag schon Abschieds-SMS an ihre Familien geschrieben. Mehrere tapfere Kämpfer sind gefallen. Mögen sie in Frieden ruhen. Erst am Donnerstag kam Unterstützung durch Hubschrauber der irakischen Luftwaffe.

Woran liegt das?

Zum einen hatte sich ein dichter Nebel gebildet, der es der Anti-IS-Koalition erschwert hat, ihre Luftschläge auszuführen. Zum anderen könnte von der Regionalregierung mehr Hilfe kommen als die wenigen Peshmerga, die zur Unterstützung ins Sindschar-Tal entsandt wurden. Die Stadt Mossul, die reich an Bodenschätzen ist, wird von den Peshmergas statt dessen mit vollem Einsatz unterstützt.

Warum gibt es diese Unstimmigkeiten mit der kurdischen Autonomieregierung? Sie hat doch auch aus Deutschland Waffen bekommen, um die Jesiden zu schützen.

Die jesidische Verteidigungseinheit kämpft für eine von Jesiden verwaltete Sindschar-Region, was die kurdische Regionalregierung in Erbil nicht will. Dabei verleugnen die Jesiden ihre kurdische Volkszugehörigkeit nicht und wären auch bereit, sich an die Regionalregierung anzuschließen. Aber wenn die Peshmerga zu lange warten, dann brauchen sie nicht mehr nach Sherefdin vorzurücken, weil es dann von den IS-Terroristen zerstört sein wird.

26, ist Sprecherin des Zentralrat der Jesiden in Deutschland, der 2007 gegründet wurde.

Den IS-Milizen schaffen Fakten, indem sie jesidische Heiligtümer zerstören?

Es ist ihr erklärtes Ziel, das Jesidentum auszulöschen. In der Sindschar-Region sind die wichtigsten Pilgerstätten und die Geistlichen zu Hause, die das Archiv und das Herz der Religion lebendig halten. Deshalb sprechen wir von einem Genozid, der an den Jesiden verübt wird.

Bei drohendem Völkermord müsste die UNO eingreifen. Aber auch Deutschland scheint nicht bereit, den Sichertheitsrat anzurufen. Warum?

Wir glauben wir nicht, dass es bei einer Abstimmung im UN-Sicherheitsrat zu einem Veto kommen würde, wenn es um den Schutz eines unschuldigen Volkes geht. Aber die Jesiden haben keine Lobby und keinen Einfluss. Dabei haben die UN und sogar Bundeskanzlerin Merkel schon von einem Völkermord gesprochen. Doch statt dessen einigt man sich lieber auf informelle Koalitionen außerhalb der UNO unter Führung der USA.

Die Jesiden sind eine religiöse Minderheit, die unter den Kurden im Nordirak, Syrien und der Türkei zu Hause ist. Dem monotheistischen Glauben, in dessen Zentrum der Engel Melek Taus steht, gehört man qua Geburt an. Fundamentalistischen Muslimen gelten die Jesiden als Abtrünnige, weshalb sie in ihrer Geschichte häufig verfolgt wurden. Der „Islamische Staat“ hat erklärt, ihre Religion auslöschen zu wollen.

Die IS-Milizen haben sich jetzt dazu bekannt, Jesidinnen im Nordirak gezielt zu versklaven. Was wissen Sie über deren Schicksal?

Wir gehen von ungefähr 7000 entführten Mädchen, jungen Frauen und Kindern aus. Zu einigen von ihnen hatten wir telefonischen Kontakt. Das mag eigenartig klingen. Aber es ist offenbar Teil der perversen IS-Strategie, dass sie die entführten Menschen mitteilen lässt, was ihnen angetan wird.

Was fordern Sie?

Wir bitten die internationale Gemeinschaft darum, eine Befreiungsaktion zu starten. Aber eine Befreiung ist schwierig, weil sie über verschiedene Ortschaften verteilt sind, die sich zum Teil sehr tief im IS-Gebiet befinden.

Was braucht es, um den IS zu besiegen?

Leider verstehen diese Terroristen nur die militärische Sprache. Unser größter Wunsch wäre ein Mandat durch den UN-Sicherheitsrat, damit der Islamische Staat zerschlagen werden kann - nicht nur im Nordirak, sondern auch in Syrien. Das sollte auch im Interesse des Westens sein. Denn man muss damit rechnen, dass er Terror-Anschläge gegen den Westen plant, sobald er sich konsolidiert hat. Heute sind wir die Opfer. Aber morgen können andere die Opfer sein.

Selbst wenn der IS besiegt werden sollte: Ist an eine Rückkehr noch zu denken?

Wir haben im Nordirak viele Gespräche mit jesidischen Flüchtlingen geführt. Viele fühlen sich von der kurdischen Autonomieregierung verraten und glauben nicht, dass sie in ihrer Heimat noch geschützt sind. Sie sind schwer traumatisiert und wollen die Region für immer verlassen, weil sie ein Leben in Frieden und Freiheit führen wollen. Aber wir wollen diese Region nicht aufgeben. Wir bitten deshalb die internationale Gemeinschaft, eine Schutzzone einzurichten, um eine jesidische Selbstverwaltung zu ermöglichen. Und wir würden uns von der Bundesregierung und anderen Ländern wünschen, zumindest eine zeitweise Aufnahme von Vergewaltigungsopfern und besonders traumatisierten Flüchtlingen zu ermöglichen - für eine angemessene psychologische Betreuung und vereinfachte Familienzusammenführungen.

Wissen Sie, wie viele Leute aus Deutschland an der Seite der Kurden und Jesiden gegen die IS-Milizen kämpfen?

Nein, vielleicht ein paar Hundert? Bei uns haben sich viele junge Männer gemeldet, und wir halten niemanden aktiv auf, der den Wunsch äußert, sich den jesidischen Kämpfern gegen den IS anzuschließen, aber wir können das nicht aktiv unterstützen. Man erreicht mehr, wenn man zum Beispiel Hilfsaktionen in Deutschland organisiert. Leider scheint das für viele junge Männer nicht cool genug zu sein.

Wie geht es den Flüchtlingen im Nordirak?

Wir sind dankbar für jede Hilfe, die kommt. Aber die Menschen in den Flüchtlingslagern sind vollkommen unterversorgt. Der Winter ist bereits eingebrochen, die Lager sind überflutet, die Menschen und ihre Kinder frieren. Drei Kinder sind kürzlich umgekommen, weil sie sich ein Feuer im Zelt gemacht haben. Die Zelte befinden sich auf Schlammboden, es wurde kein Zementuntergrund errichtet. Die Bundesregierung hat uns feste Unterkünfte und Container versprochen, aber davon ist bislang nichts angekommen, und es ist auch unklar, wer genau für die Verteilung der Hilfsgüter verantwortlich ist.

Ist die Lage im Nordirak besonders dramatisch?

Die kurdische Autonomieregion hat eine Fläche von Niedersachsen und muss auf einmal 1,5 Millionen Flüchtlinge aufnehmen. Darum sind die großen Flüchtlingslager dort vollkommen überfüllt. Daneben gibt es viele wilde Lager, überall dort, wo es freie Flächen gibt. An viel befahrenen Schnellstraßen, in Bauruinen und in Schulen haben sich Flüchtlinge provisorisch mit Matten, Decken oder Pappkartons eine Behausung aufgebaut. Eine medizinische Versorgung gibt es da aber faktisch nicht, auch keine sanitären Anlagen, und mit Lebensmitteln werden sie sehr schlecht versorgt, vielleicht gibt es ein Brot und eine Flasche Wasser am Tag.

Und wie ist es in der Türkei?

In der Türkei geht es den Flüchtlingen, die es dorthin geschafft haben, deutlich besser als in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak. Aber die Türkei hat ihre Grenzen für Flüchtlinge faktisch geschlossen. Sie lässt nur noch durch, wer Ausweisdokumente wie Pässe dabei hat. Die konnten viele allerdings bei ihrer überstürzten Flucht am 3. August nicht mitnehmen. Wer einen Schlepper bezahlen kann, der macht es, weil er so in der Türkei in ein Flüchtlingslager kommt, das weniger überfüllt ist.

Wie geht es den anderen Flüchtlingen?

Im Nordirak gibt es mehrere Bischöfe mit großen Höfen, die in der Lage sind, sie aufzunehmen und Winterkleidung zu verteilen. Die Jesiden haben keine vergleichbaren Strukturen, und von der kurdischen Autonomieregierung angewiesen ist keine Hilfe zu erwarten. Sie sind deutlich schlechter gestellt als die Christen vor Ort. Weil man sich nicht rechtzeitig auf den Winter vorbereitet konnte ist deshalb mit vielen weiteren Todesopfern zu rechnen.

Wie viel Solidarität erfahren Sie in Deutschland?

Es gibt sehr viel Solidarität von den orientalischen Christen, die selbst zu den Opfern des IS-Terrors gehören. Auch von den alevitischen Gemeinden und anderen religiösen Minderheiten wie den Bahai, von denen es auch in meiner Heimatstadt Oldenburg einige Hundert gibt, kommt viel praktische Unterstützung. Es sind vor allem die Minderheiten und die betroffenen Gruppen, die sich solidarisch zeigen.

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