Kampf um den Gaza-Streifen: Eine symbolische, tödliche Aktion

Die israelischen Streitkräfte haben mit ihrem Angriff auf hoher See nun erreicht, dass die Blockade des Gaza-Streifens jetzt wieder oben auf der internationalen Tagesordnung steht.

Steinewerfer im Gaza-Streifen nach der israelischen Attacke auf den Hilfskonvoi. Bild: reuters

Die Frage des Tages: Ein türkisches Schiff wird zusammen mit fünf anderen zivilen Booten in internationalen Gewässern im Mittelmeer von israelischen Militärs aufgebracht. Es sterben mindestens 19 Menschen. Nehmen wir einmal an, der Nato-Partner Türkei hätte ein Kriegsschiff geschickt oder dies nur angedeutet, um ein nach allen internationalen Regeln illegal gestürmtes, unter türkischer Flagge segelndes, unbewaffnetes Schiff zu schützen. Würde man diesen Fall bei den Nato-Partnern in den europäischen Hauptstädten und Washington ernst nehmen?

Die Frage zeigt, welches Eskalationspotenzial in dem Vorfall vom Montagmorgen im südöstlichen Mittelmeer steckt. 600 Menschen aus über 40 Nationen waren an Bord, Europaabgeordnete ebenso wie der Nobelpreisträger Corrigan Maguire und der Schriftsteller Henning Mankell. Es sollte eine symbolische Aktion werden, die tödlich endete.

Avital Leibovich, ein israelischer Armeesprecher, hat bestätigt, dass der Angriff in internationalen Gewässern stattgefunden hat. "Wir haben das Recht, uns selbst zu verteidigen", erklärte er. Doch die Frage der genauen Position der Boote könnte noch rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Laut dem ägyptischen Experten für internationales Recht, Abdallah Khalil, hat Israel das Recht, bewaffnete Schiffe nur innerhalb seines regionalen Gewässers anzugreifen. Um ein Schiff in internationalen Gewässern zu attackieren, muss eine Kriegserklärung vorausgehen, selbst wenn es sich um ein Kriegsschiff handelt. Laut internationalem Recht könne nun juristisch gegen Israel vorgegangen werden, erklärt er.

Das Ganze macht eines deutlich: Europäer und Amerikaner können nicht mehr länger ihre Köpfe in den Sand stecken angesichts der Tatsache, dass 1,5 Millionen Menschen im Gazastreifen seit 1.000 Tagen vom Rest der Welt abgeschnitten sind. Mehr Einwohner also als die Stadt München hat. Auch wenn Israel immer wieder behauptet, genug Hilfslieferungen durchzulassen: Nach UN-Angaben kommt derzeit nur ein Viertel der benötigten Waren im Gazastreifen an. Die dortige UN-Statistik spricht für sich: 80 Prozent der Einwohner Gazas leben unter der Armutsgrenze. Für drei Viertel der Menschen ist die, wie die UN es bezeichnen, "Lebensmittelsicherheit" nicht garantiert. 60 Prozent sind arbeitslos, auch weil aus dem Gazastreifen nicht wie früher landwirtschaftliche Güter und Schnittblumen nach Europa exportiert werden können.

Die türkischen und arabischen Reaktionen auf die Schiffsattacke waren absehbar. Der Schaden für die türkisch-israelischen Beziehungen sei nicht wieder gutzumachen, hieß es in einer Erklärung des türkischen Außenministeriums. Die Arabische Liga hat für diesen Dienstag eine Dringlichkeitssitzung in Kairo einberufen. Am Hafen von Gaza versammelten sich die Menschen zu einer Protestveranstaltung. Ismail Haniya, der Hamas-Premier in Gaza, sprach von Piraterie und rief die Menschen im Rest der Welt dazu auf, vor israelischen Botschaften und Konsulaten zu demonstrieren.

Aber in der arabischen Welt blickt man nicht so sehr auf die eigenen Regierungen und deren Reaktionen, sondern in Richtung Europa und die USA. Eigentlich sollte US Präsident Barack Obama am Dienstag Israels Premierminister Benjamin Netanjahu empfangen. Doch Montagnachmittag hat Netanjahu seinen USA-Besuch abgesagt. Er wird jetzt von seiner Kanadareise direkt nach Israel zurückkehren.

Das Treffen mit Obama war schon seit Längerem angesetzt und war eigentlich dazu gedacht, die angeschlagenen israelisch-amerikanischen Beziehungen wieder aus ihrem gegenwärtigen Tiefpunkt zu bringen. Eigentlich wollte man besprechen, mit welchen ernsthaften Inhalten die israelische Seite in Verhandlungen mit den Palästinensern gehen sollte. Dabei sollte es um die genauen Grenzen eines palästinensischen Staates gehen und um die US-Forderung an Israel, den Siedlungsbau zu stoppen und den Status von Ostjerusalem nicht mehr einseitig durch Baumaßnahmen zu verändern.

Das israelische Vorgehen gegen die Aktivisten zeigt auch, wie nervös die israelische Seite derzeit auf dem internationalen Parkett ist. Es existiert ein weltweiter Konsens, dass Israel den Siedlungsbau stoppen und eine Zweistaatenlösung, also einen palästinensischen Staat, zulassen soll. Da erscheint das zwanghafte Durchsetzen der Gazablockade fast wie ein Akt der Hilflosigkeit. Und eines haben die israelischen Streitkräfte mit ihrem Angriff auf hoher See nun sicherlich unbeabsichtigt erreicht: Die Blockade des Gazastreifens steht nun wieder ganz oben auf der internationalen Tagesordnung.

Auch wenn die Europäer zunächst noch ganz kleine Brötchen backen. EU-Außenpolitikchefin Catherine Ashton fordert die "umgehende und umfassende Untersuchung der israelischen Streitkräfte". Diese solle klären, wie es zu der Tragödie gekommen sei. Auch eine internationale Untersuchung würde man begrüßen, fügte ein Sprecher Ashtons hinzu. Bundesaußenminister Guido Westerwelle fordert ebenso eine umfassende, transparente und neutrale Untersuchung aller Umstände.

Aber das allein ist zu kurz gegriffen. Es sind schon ganz andere internationale Untersuchungen, wie etwa der UN-Goldstone-Bericht über Kriegsverbrechen im Gazakrieg in den Schubladen verschwunden - ohne Folgen.

Am Ende wird es darum gehen, welche politischen Konsequenzen gezogen werden können; die Beendigung der Blockade gegen den Gazastreifen wird im Zentrum stehen. Das deutet sogar Ashton an. Die fortdauernde Abriegelung des Gazastreifens sei "nicht hinnehmbar" und "politisch kontraproduktiv", erklärte die EU-Chefdiplomatin. Sie rief zur "sofortigen und bedingungslosen Öffnung der Grenzposten für humanitäre Hilfe, kommerzielle Güter und Personen" auf. Genau das wollten die Aktivisten mit ihrer symbolischen Aktion erreichen. Die brutale israelische Antwort macht es der internationalen Gemeinschaft unmöglich, wieder zur Tagesordnung überzugehen.

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