Kanalisation in London: Fettes Rohr

Riesige Pfropfen aus Fett und Müll blockieren die Londoner Kanalisation. Der bislang größte „Fettberg“ wird über Wochen zersägt und abtransportiert.

Eine Hand hält ein angestrahltes Stück vom Fettberg in der Londoner Kanalisation

Voll fett! „Vor allem, dass es so kompakt ist, hat mich überrascht“, sagt Museumskurator Alex Werner Foto: ap

LONDON taz | Er besteht aus Kondomen, Windeln und Bratfett. Er wiegt – je nach Belieben – so viel wie elf Doppeldeckerbusse oder 19 Elefanten und ist so groß wie zwei Fußballfelder. Das stinkende Ungetüm, das gerade die Kanalisation unter dem Londoner Stadtteil Whitechapel verstopft, haben die Londoner „Fatberg“ genannt – angelehnt an „Iceberg“ („Eisberg“ zu Deutsch).

Nur wenige Meter unter dem Erdboden in Londons altertümlichem, rattenverseuchten Abwassersystem steckt der enorme Pfropf aus stinkendem Müll, den Arbeiter Anfang September entdeckt haben. Zwar ist das nicht der erste Fettberg seiner Art, aber der bislang größte.

Am Montag wurde nun bekannt, dass noch ein weiterer Fettpfropfen die Kanalisation verstopft. Dieses Mal unter Chinatown, etwa vier Kilometer weiter westlich – allerdings nur mit einem Gewicht von drei Elefanten.

Die Arbeiter, die dazu abgestellt sind, die Fettberge mit Hochleistungswerkzeugen zu zersägen und so zu verhindern, dass das Abwasser die Straßen flutet, sollen allein drei Wochen brauchen, um den ersten Berg kleinzukriegen. Es ist offenbar hart wie Zement.

Die Wissenschaftsjournalistin Laurie Winkless hat für ihr Buch „Science and the City“ zum Thema Fettberge recherchiert – und sich selbst einen aus nächster Nähe angesehen. Winkless beschreibt ihre Erfahrung so: „Er hat gestunken – nach ranzigem Fett und verbranntem Haar. Man erkannte ziemlich viele einzelne Komponenten in der Masse – Feuchttücher, Kondome, Wattepads, Plastikstücke und so weiter –, erstarrt in einer dichten, schmutzig aussehenden Masse aus Fett.“

Ein Stück Fettberg für das Museum of London

Das Problem sei, dass das Abwassersystem unsichtbar ist. „Die Menschen sprechen immer davon, dass sie etwas ‚weg‘­werfen“, sagt Winkless. „Aber in Wirklichkeit gibt es eben gar kein ‚weg‘. Alles, was wir in den Müll werfen oder die Toilette runterspülen oder in den Abfluss schütten, landet irgendwo.“

Sogar das Museum of London will jetzt ein Stück der erstarrten Masse ausstellen. Warum hat ein Museum Interesse an etwas derart Widerlichem? Und wer will so etwas sehen? Riechen?

„Es stinkt wirklich sehr unangenehm“, bestätigt auch Alex Werner, Hauptkurator des Museums of London, nachdem er ein Stück des Fettbergs besichtigt hat. „Ich bin den Geruch erst drei oder vier Tage später wieder losgeworden.“ Schwer sei das Stück obendrein. „Vor allem, dass es so kompakt ist, hat mich überrascht“, so Werner.

Laurie Winkless, Fettberg-Expertin

„Er stinkt nach ­verbranntem Haar. Man erkennt Feuchttücher, Kondome, Wattepads, Plastikstücke – erstarrt in einer Masse aus Fett“

Werner versucht schon seit Jahren, ein Stück Fettberg für seine Sammlung zu bekommen. Er ist davon überzeugt, dass es Besucher anziehen wird. Man könne sehr viel über eine Gesellschaft lernen, wenn man sich ansieht, was diese wegwirft, sagt er und betont, dass „einige der spannendsten Exponate“ in der historischen Sammlung des Museums aus alten Klärgruben stammt, in der der Müll aus Londons Vergangenheit erhalten geblieben ist – zum Beispiel ein römischer Bikini.

Natürlich sei der Fettberg „ein bisschen der Horror“, gibt Werner zu. Doch er sei auch ein Verweis auf tiefergehende Fragen, auf die Umweltverschmutzung in der Stadt, Müll und darauf, wie wir leben. „Es waren stets Schlüsselmomente der Londoner Geschichte, wenn die Kanalisation der Stadt in katastrophalem Zustand war“, sagt Werner. „Dieses Objekt steht für die moderne Stadt und die Tatsache, dass wir uns immer noch nicht genug Gedanken darüber machen, wie wir unseren Müll entsorgen.“

Der Große Gestank

Mitte des 19. Jahrhunderts waberte schon einmal beißender Gestank durch London – so schlimm sogar, dass die Zeitungen der Stadt über „giftige Gase“ klagten, die die Straßen erfüllten; ein Gestank, der so streng war, dass viele glaubten, er könnte tödlich sein. Politiker in den Regierungsgebäuden imprägnierten die Vorhänge ihrer Büros, um den Geruch loszuwerden; die Bewohner der Stadt weigerten sich, ihre Wohnungen zu verlassen. „Wer den Gestank eingeatmet hat, wird ihn nie wieder vergessen“, schrieb ein Journalist, „und es kann sich glücklich schätzen, wer lange genug lebt, um sich an den Gestank zu erinnern.“

Der „Große Gestank“ von 1858 stammte von Exkrementen und Industriemüll aus der Themse. Damals mündete das Abwassersystem Londons direkt in den Fluss – und war gänzlich ungeeignet, um mit der rapide anwachsenden Bevölkerung und deren Ausscheidungen fertig zu werden.

Noch verschärft durch einen besonders heißen Sommer wurde der Gestank unerträglich – und obwohl die Ausdünstungen selbst wohl nicht tödlich waren, das Wasser war es sehr wohl. Mehrere Choleraausbrüche, die einige Zehntausend Menschen nach dem Großen Gestank das Leben kosteten, wurden zum Teil dadurch ausgelöst, dass die Menschen Wasser aus dem Fluss tranken.

Zur Zeit des Großen Gestanks war London die weltweit wohlhabendste Stadt – die Hauptstadt eines Weltreichs, das sich in alle Winkel der Erde erstreckte. Gleichzeitig herrschte immense Ungleichheit in der Stadt, einige Viertel waren so arm wie kaum sonst irgendwo. Whitechapel in East London zog Einwanderer aus der ganzen Welt an, besonders Iren, die der Hungersnot in ihrer Heimat entkommen wollten, und Juden, die vor Vertreibung im Rest Europas flohen.

Die Wohnungen waren beengt und kahl, und die Familien, die dort lebten, waren aus Platzmangel teilweise gezwungen, in Kellern und Hinterhöfen zu leben. Als der Große Gestank über die Stadt hereinbrach, war die Bevölkerung innerhalb eines halben Jahrhunderts auf das Dreifache angewachsen – auf 2,8 Millionen. London schien schon damals aus allen Nähten zu platzen.

Opfer ihres eigenen Erfolgs

Heute ist London mit fast neun Millionen Einwohnern die größte Stadt Europas – aber weite Teile der Infrastruktur stammen nach wie vor aus dem 19. Jahrhundert. Das gilt auch für das höhlenartige Abwassersystem, erbaut von einem visionären Ingenieur namens Joseph Bazalgette – nicht zuletzt, weil man die Stadt nach dem Großen Gestank hatte aufräumen wollen.

Diese mehr als 150 Jahre alte Kanalisation dient London heute immer noch. Und ausgerechnet unter den Straßen von Whitechapel, wo nach wie vor viele Einwanderer leben – heute in erster Linie aus Südostasien – wurde der allergrößte Fettberg gefunden.

„Die Infrastruktur ist eines der zentralen Probleme Londons“, sagt Werner. „Die Bevölkerung wächst weiter, und das setzt die Infrastruktur unter Druck, die öffentlichen Verkehrsmittel und all die essenziellen Dinge des täglichen Lebens.“ So wie die Kanalisation.

Gewissermaßen ist die Stadt Opfer ihres eigenen Erfolgs. Seiner Zeit voraus war das U-Bahn-System eines der ersten, das es weltweit gab. Es wurde ebenfalls kurz nach dem Großen Gestank gebaut.

Wer aber heute versucht, in der Rushhour mit der Metro durch die Stadt zu fahren, weiß: Die heißen, überfüllten U-Bahn-Tunnel verstopfen ebenso schnell wie das Abwassersystem. Im Vergleich zu anderen weitläufigen, Klimaanlagen-gekühlten U-Bahn-Linien moderner Städte mag das beschämend sein. Aber es spricht auch für den Ehrgeiz Londoner Ingenieure, dass ein so altes System heute noch in Gebrauch ist.

Der Reiz des Ekels

Das Problem ist also weniger das Alter der Kanalisation als deren Nutzung. „In einer Welt billiger Konsumgüter“, sagt Werner, „werfen wir Dinge einfach weg, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden.“

Im 19. Jahrhundert habe man darüber womöglich ein bisschen mehr nachgedacht oder noch besser verstanden, dass bestimmte Gebrauchsgegenstände einen Wert haben, sagt Werner. „Ich glaube, langsam kommen wir dem Verständnis wieder näher, dass wir Müll recyceln und dass wir wieder mehr darüber nachdenken müssen, was wir wegwerfen.“

Natürlich ist da auch noch der Reiz des Ekels: „Das Ding ist total schrecklich, und das wird auch für viele ein Grund sein zu kommen“, glaubt Werner. Man sei gleichermaßen abgestoßen und fasziniert. „Ein Albtraum, bei dem man nicht wegsehen kann.“

Das restliche Fettbergfett soll übrigens wiederverwertet werden. Das Wasserversorgungsunternehmen Thames Water hat angekündigt, die Masse in Biodiesel umwandeln zu lassen. So sollen aus dem Stinkpropf 10.000 Liter Ökokraftstoff werden.

Übersetzung: Marlene Halser

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.