Leipziger Buchpreis: Dichter am Erfolg

Mit Jan Wagner war erstmals ein Lyriker für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. In der Lyrikszene sorgt das für Aufregung – nicht nur im Positiven.

Die Lyrikerin Sabine Scho kritisiert Wagners Lyrik als „restaurativ“, unter anderem wegen ihnen: Esel. Bild: dpa

Update, 12.3.: Jan Wagner ist als Preisträger bekannt gegeben.

Die Klappstühle sind aus. Wer an diesem Abend die Literaturwerkstatt in der Berliner Kulturbrauerei nicht frühzeitig aufgesucht hat, muss stehen. Dass Klappstuhl-Knappheit herrscht, könnte Außenstehende verwundern. Immerhin geht es hier um Lyrik, ein Genre, bei dem der Bestsellerbereich ab einer Auflage von 500 verkauften Büchern einsetzt.

Möglicherweise liegt es am Titel der Veranstaltung: „Lutz Seilers Short List“. Der Gewinner des Deutschen Buchpreises 2014 dürfte so manchem ein Begriff sein. Dass Seiler, bevor er mit seinem späten Debütroman „Kruso“ avancierte, jahrzehntelang Gedichte schrieb, wissen dagegen die wenigsten. Bei seiner Dankesrede letztes Jahr nannte Seiler dann auch drei Dichterkollegen – eben die „Shortlist“, die der Titel der heutigen Lesung verspricht –, die ebenfalls Aufmerksamkeit verdient hätten. Aber mit der Lyrik, so der Tenor der Rede, ist in Deutschland eben kein Blumentopf zu gewinnen, geschweige denn ein Buchpreis.

Oder doch? „Als hätte es gewirkt“, freut sich der Leiter der Literaturwerkstatt, Thomas Wohlfahrt. Denn ein halbes Jahr später ist doch etwas passiert: Jan Wagner ist mit seinem Gedichtband „Regentonnenvariationen“ für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden.

Zum ersten Mal in der zehnjährigen Geschichte des Preises hat es damit ein Lyriker auf die Shortlist geschafft; am Donnerstagnachmittag wird verkündet, ob tatsächlich er oder eineR seiner vier MitkandidatInnen gewinnt. Beim Deutschen Buchpreis, der im Herbst zur Frankfurter Buchmesse verliehen wird, wäre dieses „Ereignis“ ohnehin ausgeschlossen, denn hier ist der Preis Romanen vorbehalten.

Wenn ein Vertreter eines Genres, für das sich ansonsten nur eine Spezialöffentlichkeit interessiert, auf einmal ins Rampenlicht gerät, was hat das zu bedeuten? Für das Genre und für die Lyriker, die weiterhin im Schatten stehen?

Ein konventioneller Autor

In einer der hinteren Reihen in der Literaturwerkstatt sitzt die Lyrikerin und Verlegerin Daniela Seel. Unter ihrer schwarzen Mütze schaut eine blond gefärbte Haarsträhne hervor, ihr Jackettärmel hat das gleiche Grasgrün wie ihre Cowboystiefel. Ebenso detailverliebt sind die Bücher, die Seel in ihrem Ein-Frau-Betrieb „kookbooks“ seit 2003 verlegt. Wer sich für deutsche Gegenwartslyrik interessiert, kommt an „kookbooks“ nicht vorbei.

„Da hat es innerhalb der Lyrikszene schon ein bisschen Diskussion drüber gegeben“, fasst Seel die Reaktionen auf Wagners Nominierung betont nüchtern zusammen. Kern der Diskussion: Wenn Lyrik ausnahmsweise einmal wahrgenommen werde, wieso dann ausgerechnet ein so konventioneller Autor wie Jan Wagner?

Inwiefern Wagner konventionell schreibt, darüber lässt sich streiten. Tatsache ist, dass die Gedichte in „Regentonnenvariationen“ Titel tragen wie „torf“, „ein pferd“ oder „versuch über seife“, und dass sie sehr kunstvoll mit traditionellen Formen spielen. Einige behaupten allerdings, es fehle dieser Gegenwartslyrik an Gegenwart.

Der Lyriker Björn Kuhligk, der in den nuller Jahren zusammen mit Jan Wagner Anthologien zur Gegenwartslyrik herausgegeben hat, erklärt sich die Debatte um die Nominierung folgendermaßen: „Die Lyrikszene ist klein und da gibt es mitunter ein Verhalten, das an Kaninchenzüchtervereine erinnert. Wenn das eine Kaninchen den Preis gewonnen hat, dann beschweren sich alle anderen.“ Nun hat Wagner noch nichts gewonnen, aber auch seine Nominierung findet Kuhligk schon ein „tolles Zeichen“.

Restaurative Themen

Schließlich gehe es darum, einem größeren Publikum zu zeigen, dass Lyrik hergestellt werde und gleich viel wert sei wie ein Roman. Kuhligk, der im Brotberuf als Buchhändler arbeitet, kann mit dem Konservatismusvorwurf gegen Wagner wenig anfangen. Es sei nur logisch, dass man bei einem so großen Preis wie dem Leipziger Buchpreis einen Lyriker auswähle, dessen Gedichte verständlicher seien als die eines experimentell arbeitenden Autors.

Dass Wagners Nominierung „markttechnisch klug“ sei, findet auch die Lyrikerin Sabine Scho. Gut findet sie die Wahl deshalb allerdings nicht. „Wenn man sagt, man will eine Signalwirkung für das, was Lyrik heutzutage macht, dann hätte man jemand ganz anderen nominieren müssen“, meint Scho. Wagner behandle „sehr restaurative Themen“, erklärt sie ihren Unmut und hält kurz inne – „also sozusagen: drei Esel auf Sizilien“. Ziemlich spöttisch klingt das, persönlich will sie es aber nicht verstanden wissen. Wagner sei eben „auch nur Statthalter für jemanden, auf den man sich ständig einigen kann“.

Was sie wirklich störe, sei, dass man mit der Nominierung Wagners die Lyrik in eine altbekannte Ecke schiebe, sie zuständig mache „für das Ergriffensein angesichts der Natur, für das Erste und Letzte und dann auch immer in einem innehaltenden Ton“.

In diesem Punkt ist sich Daniela Seel mit „ihrer“ Autorin – denn Sabine Scho ist bei kookbooks verlegt – einig. Wer Lyrik als etwas Schöngeistiges verstehe, verkenne, wie sehr Gedichte die Wahrnehmung von Sprache schärfen könnten. Das sei etwas unmittelbar Politisches. „Aber das wird nicht mitvermittelt, wenn Gedichte als eine Wohlfühlkategorie gesehen werden, wo ich etwas Schönes über Seife lese“, findet Seel.

Kein Gehör in der Öffentlichkeit

Nichtsdestotrotz, betont sie, sei Jan Wagner ein sehr guter Dichter, der die Anerkennung durchaus verdiene. Nur eben „nicht in so einem überragenden Maße mehr als andere, die sperrigere und experimentellere Formen machen“. Letzten Endes sei es ein „Problem der Repräsentation“; wenn nur ein Lyrikband ausgewählt werde, könne der naturgemäß nicht für alle anderen stehen.

Worauf sowohl Scho als auch Seel hinweisen, ist, dass in den letzten Jahren eine sehr vielfältige Lyrikszene entstanden sei, von der eine breitere Öffentlichkeit aber nach wie vor wenig Notiz nehme. Ein Protagonist dieser neuen Vielfalt ist Max Czollek.

Er ist Gründungsmitglied des Lyrikkollektivs „G13“ und Mitorganisator von „babelsprech“, einem Projekt zur Vernetzung junger deutschsprachiger Lyrik. Kollaborieren und sich ein eigenes Publikum generieren, das ist Czolleks Ansatz. Er gönne Jan Wagner den Erfolg, erklärt er, trotzdem lese er die Nominierung vor allem als eine „symbolische Aktion“.

Max Czollek ist Jahrgang 1987, Wagner, Kuhligk, Scho und Seel sind alle in den Siebzigern geboren. Vielleicht liegt es an seiner Zugehörigkeit zu einer anderen Generation, dass Czollek als Einziger auch Kritik an der Lyrikproduktion selbst anführt.

Lyrik ist anstrengend

Wagners Schreiben habe eben eine Bedeutungsebene. Wenn er von einigen als konventioneller Lyriker angesehen werde, habe das auch „viel mit der Misere gegenwärtiger Lyrik zu tun“, die sich dieser inhaltlichen Ebene verweigere. „Das ist ein bisschen wie die Melodie in der Musik, wenn du keine Melodie mehr hast, hast du moderne, super-avancierte Musik, aber kein Mensch kann es hören, der nicht schon weiß, wie man dem zuhören soll“, findet Czollek. Eine bestimmte Form von Publikumsorientierung spiele in der gegenwärtigen Lyrik mitunter betont keine Rolle.

Ist die vermeintlich mangelnde Orientierung am Publikum nun Ursache oder Folge der geringen Wahrnehmung von Lyrik? Scho, Seel und Czollek weisen auf jeden Fall alle darauf hin, dass die großen Verlage sich im Grunde kaum für Lyrik interessierten. Kuhligk setzt noch grundlegender an: Gedichte lesen habe eben mit Aufmerksamkeit zu tun, mit Arbeit. „Das ist eine schöne Anstrengung“, findet er, „aber das wollen viele nicht.“

So unterschiedlich die Erklärungen für die geringe Wahrnehmung des Genres ausfallen, in einem stimmen alle, mit denen man im Frühjahr 2015 über den Stand der Gegenwartslyrik spricht, überein: Die Marktferne sei gleichzeitig auch mit einer enormen künstlerischen Freiheit verbunden. „Die Lyrik ist von allen Formaten, die es in der Literatur gibt, glaube ich, immer am weitesten, weil es damit am wenigsten Geld zu verdienen gibt“, meint Kuhligk.

Dass diese Freiheit mit größerem kommerziellem Erfolg eingeschränkt würde, darüber herrscht ebenso Konsens. Aber, so Seel, selbst wenn sich die Wahrnehmung verzehnfachen würde, wäre sie immer noch extrem gering. Scho wiederum kann, gefragt nach den negativen Folgen, die eine steigende Aufmerksamkeit haben könnte, nur lachen: „So hat es ja auch Nachteile. Ich würde gerne mal neue Nachteile haben. Die Nachteile des Erfolgs würde ich auch ganz gerne mal erleben.“ Jan Wagner kann das vielleicht schon Donnerstagnachmittag.

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