Kann Brasilien gewinnen?: So politisch wie nie

Während der „Copa“ verwandelt sich das Goethe-Institut São Paulo in einen Bolzplatz. Gewiss ist längst: Keine Fußball-WM hat je mehr Debatten befördert.

Ballbeschwörung in Peru - Ein Werk aus der Ausstellung "Das Spiel hört auf, wenn es zuende ist", Goethe-Institut 2014. Bild: Morfi Jiménez Mercado/Goethe Inst.

Die Anspannung vor einem Mega-Ereignis könnte kaum größer sein als jetzt in Brasilien vor der Fußball-Weltmeisterschaft. Überall wird gebaut. Es ist hektisch. Die Menschen sind wütend.

Die Aufrufe zu Protesten gegen die Regierung und gegen die WM werden zahlreicher. Plakate behaupten, die „Copa“ werde nicht stattfinden. Fragt man Taxifahrer oder Kellner, dann wünschen sie sich trotzig, dass die brasilianische Mannschaft schon in der Vorrunde ausscheidet und die Regierung endlich anfängt, sich um Bildung, Gesundheit und Transport zu kümmern. Kurz: Die Menschen sind geladen. Vorfreude oder gar Fußballfieber sind nicht zu erkennen.

Sie leitet seit November 2013 das Goethe-Institut São Paulo und die Region Südamerika - und erlebt zum dritten Mal eine Fußballweltmeisterschaft hautnah mit. Bevor sie nach Sao Paulo kam, leitete sie das Goethe-Institut Johannesburg und die Region Subsahara-Afrika. Von 2003 bis 2008 war sie Leiterin der Abteilung Sprache in der Zentrale des Goethe-Instituts in München.

Es gab wohl noch nie eine so politische WM. Dass es bei dieser Stimmung wieder Proteste geben wird, ist sicher und hoffentlich bleiben sie friedlich. Die ganze Wut der Masse könnte sich aber entladen, wenn die brasilianische Mannschaft frühzeitig ausscheidet - eine Teilnahme am Endspiel ist schon daher wünschenswert.

Die Goethe-Institute weltweit nutzen das populäre Thema Fußball für ihre Arbeit. Sie sind seit jeher Orte für Public Viewing und schaffen, wenn Deutschland spielt, mit Bier und Wurst ein entsprechendes Fußballambiente. Das können die Fans auch dieses Jahr an allen Instituten - natürlich ganz besonders in Brasilien - erleben.

In São Paulo verwandelt sich das Institut in eine „Várzea“, einen Bolzplatz. Das Künstlerkollektiv Casa de Lapa hat das Konzept dafür entwickelt. Neben einzelnen Public-Viewing-Stationen, Tischen und Bänken und einem Churrasco - dem brasilianischen Grill - wird es viele Möglichkeiten geben, sich fußballerisch zu betätigen: von der Torwand bis hin zu einem richtigen kleinen Bolzplatz.

Bühnenprogramme ranken sich - auch kritisch - um das Thema Fußball. Dazu werden Künstler, Intellektuelle und Experten aus den letzten WM-Gastgeberländern Deutschland, Südafrika und Brasilien eingeladen.

Hintergrund dafür ist auch, dass ich inzwischen die dritte WM live erleben darf. In Deutschland war es das berühmte Sommermärchen, in Südafrika konnte man quasi stündlich beobachten, wie sich das Land der Welt öffnete und die Apartheid - die Trennung von Schwarz und Weiß - „ergraute“.

Doch auch dort wurden schon Stimmen laut, dass die WM Gelder verschlinge, die besser in Initiativen zur Stärkung des Sozialwesens gesteckt werden sollten. Man warf den Organisatoren der WM Habgier, Korruption und Gigantomanie vorwarf, ebenso der südafrikanischen Regierung.

In Brasilien, dem ersten Land, das zum zweiten Mal die WM ausrichtet, das die Weltmeister-Rangliste anführt und berühmt ist für Samba, Spaß und mitreißenden Fußball, findet dieser Protest, diese Kritik am System nun einen entsprechend virulenten Höhepunkt.

Dem Goethe-Institut geht es deshalb nicht mehr nur darum, eine völkerverbindende Public-Viewing-Atmosphäre zu schaffen: Es will auch die Auswirkungen, die sozialen und kulturellen Folgen solcher Großereignisse diskursiv in den Blick rücken und künstlerisch auf die Bühne bringen.

Fußball ist schon lange ein Ort des intellektuellen, kritischen Dialogs und wird es in Brasilien in einem Ausmaß, das vielleicht die Kraft hat, die Mächte - der Mega-Events wie von Politik und Wirtschaft - in Frage zu stellen. Das Festival am Goethe-Institut Sao Paulo heißt „Varzeanas“. Das Wort setzt sich zusammen aus „Varzea“ und „Bachianas“. Eine „Varzea“ ist eine Art Aue, einem bei Hochwasser überschwemmten Gebiet, das aber ansonsten Platz für Fußball bietet.

Dort haben sich die Fußballtalente Brasiliens entwickelt. Es ist ein Ort, wo nicht nur gespielt wird, wo man sich auch trifft, zusammen isst, trinkt, diskutiert. „Bachianas“ ist die bekannteste Werkreihe des brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos, eine Interpretation von Bachs Werk. Es ist eine Wortschöpfung, die die Verbindung zwischen Fußball und Kultur deutlich machen soll.

Es wird viele Veranstaltungen zum Thema Fußball geben, die das Potenzial haben, den kritischen Diskurs zu begleiten. „Gefallene Helden“ von Albert Ostermaier beispielsweise ist eine Inszenierung von Monologen gescheiterter, tragischer Figuren des Fußballs.

Mit Spannung wurde auch das Rückspiel der Autoren-Nationalmannschaften am 8. Juni in São Paulo erwartet. Das Hinspiel in Frankfurt konnte Deutschland - bei winterlichen Temperaturen - ganz klar mit 9:1 für sich entscheiden. Nun galt es, dass die Brasilianer - inzwischen hatten sie ein Dreivierteljahr Zeit zum Trainieren - ihre Ehre wieder herstellen. Das Rückspiel ging 0:0 aus - was die Brasilianer als Erfolg für sich verbuchten.

Die Fußball-WM wird auch in Brasilien wieder eine Plattform bieten für einen Austausch der Kulturen. Vielleicht noch viel spannender als die Frage, wer diesmal Weltmeister wird, wird es aber sein, zu sehen, ob und wie das brasilianische Volk diese WM nutzen wird, auch auf anderen Ebenen zu gewinnen.

Nach dem Sommermärchen in Deutschland, der Multikulturalisierung der Weltwahrnehmung, dem verbindenden Effekt der WM in Südafrika, werde ich nun sicherlich eine ganz andere WM erleben. Ich wage zu bezweifeln, dass es den landläufigen Erwartungen entsprechend eine große Sambaparty mit Caipirinhas und lachenden, hübschen Menschen sein wird. Aber „schau'n mer mal...“

KATHARINA VON RUCKTESCHELL-KATTE