Kiel lockert Residenzpflicht: Grenzenlos, aber nicht unbegrenzt

Schleswig-Holstein lockert die Residenzpflicht für Flüchtlinge und erlaubt Reisen in die Nachbarländer. Dort gelten aber ganz unterschiedliche Regelungen für die Freizügigkeit.

Flüchtlingsorganisationen fordern seit Jahren ein Ende der Residenzpflicht: Schleswig-Holstein lockert die räumliche Beschränkung jetzt. Bild: dpa

KIEL taz | An den Autobahnschildern, die Schleswig-Holstein von Hamburg trennen, rasen täglich Tausende Autofahrer achtlos vorbei. Nur für Flüchtlinge mit unklarem Aufenthaltsstatus, für Asylsuchende und Geduldete sind die Grenzen zwischen den Bundesländern echte Hürden: Die Residenzpflicht schreibt ihnen vor, an ihrem Wohnort zu bleiben. Grenzüberschreitende Regelungen gab es bisher nur ausnahmsweise, unter anderem zwischen Bremen und Niedersachsen. Nun läutet Schleswig-Holstein die „grenzenlose“ Freizügigkeit ein.

„In Zukunft wird sich ein Flüchtling in die S-Bahn setzen und nach Hamburg fahren können“, sagt Thomas Giebeler, Sprecher des Kieler Innenministeriums. „Dafür muss nicht mehr um Erlaubnis gebeten werden.“ Allerdings geht dieser grenzüberschreitenden Reisefreiheit eine einmalige Prüfung voraus. Die lokale Ausländerbehörde kann den so genannten Freistempel verweigern. Etwa wenn jemand kurz vor der Abschiebung steht oder sich strafbar gemacht hat. „99,5 Prozent werden den Stempel bekommen“, heißt es aus dem Innenministerium. Weisungen erteile die Behörde nicht: „Das ist nicht Stil des Hauses“, sagt Giebeler. Es sei aber klar, dass sich das Ministerium für eine großzügige Auslegung einsetze.

Doch der Kieler Wille ist nicht immer entscheidend für die Handlungen der Ausländerbehörden, wie das Ministerium auf Anfrage der FDP-Landtagsfraktion bereits im Dezember zugab. Es ging darum, wie weit die Reisefreiheit innerhalb des Landes gelte, die der damalige Justizminister der schwarz-gelben Koalition, Emil Schmalfuß (FDP), 2011 einführte. Die meisten Landkreise und Städte setzten den Beschluss um – nur die Ausländerbehörden in Segeberg und Stormarn erkannten zahlreiche „besonders gelagerte Fälle“, für die die Residenzpflicht weiter galt.

Verabschiedet wurde die Residenzpflicht 1982 von der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung. Sie verpflichtet Asylbewerber und Geduldete, sich nur in dem von der Ausländerbehörde festgelegten Bereich aufzuhalten.

Die Residenzpflicht erschwert Besuche bei Verwandten oder Freunden und die Arbeitssuche.

Flüchtlingsorganisationen fordern seit Jahren, die Residenzpflicht abzuschaffen.

Im Juli 2010 waren Berlin und Brandenburg die Ersten, die bundeslandübergreifende Reisen erlaubten.

Seit April 2013 dürfen Asylbewerber zwischen Niedersachsen und Bremen frei reisen. Sie brauchen aber eine "Verlassenserlaubnis", um die Landesgrenzen zu überqueren. EST

Ähnlich könnte es bei Reisen zwischen den Bundesländern sein, befürchtet Martin Link, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Schleswig-Holstein. Auch eine bundesweite Analyse der Organisation Pro Asyl von 2012 kritisiert: „Bewegungsfreiheit wird vom Verhalten des Einzelnen abhängig gemacht und damit systematisch als Sanktionsmittel eingesetzt.“

Dennoch begrüßt der Flüchtlingsrat den Erlass aus Kiel. „Wenn wir eine Willkommenskultur schaffen, Menschen integrieren und für den Arbeitsmarkt gewinnen wollen, brauchen sie Freizügigkeit“, sagt Link.

Das schleswig-holsteinische Modell erlaubt Fahrten im gesamten Bundesgebiet. Bislang wurden bestenfalls gegenseitige Abkommen geschlossen. „Es geht dieses Mal um Menschen aus Schleswig-Holstein, denen wir das Verlassen des Landes erlauben. Dazu braucht es keine Staatsverträge“, sagt Ministeriumssprecher Giebeler. Tatsächlich wird bestehendes Recht, nämlich die Reiseerlaubnis im Einzelfall, erweitert und großzügig ausgelegt.

Hamburg habe bereits eine entsprechende Regelung, heißt es aus Kiel – eine Bestätigung der Hamburger Innenbehörde war gestern aber nicht zu bekommen. Niedersachsens SPD-Innenministerium „begrüßt die Zielrichtung des Erlasses in der Sache“, so ein Sprecher. Übernommen werde die Regelung zunächst aber nicht. Derzeit laufe eine Befragung in den Ausländerbehörden zur Praxis bei der Reisefreiheit, die erst ausgewertet werden soll. Anschließend werde man dann prüfen, ob Schleswig-Holstein auch ein Modell für Niedersachsen sein könne, so der Sprecher.

Klar ist, dass auch mit der neuen Regelung Asylsuchende und Geduldete nicht frei entscheiden dürfen, wo sie leben wollen. Nur „vorübergehend“ sollen sie sich anderswo aufhalten dürfen. Genau definiert sei diese Spanne nicht, so Giebeler. Aber da die Flüchtlinge erreichbar sein und schnell auf Behördenpost reagieren müssen, seien „Fixpunkte gesetzt“. Etwas präziser formuliert es das Land Mecklenburg-Vorpommern, das ebenfalls die Residenzpflicht gelockert hat: „Unter ,vorübergehend’ ist in der Regel ein Zeitraum von drei bis fünf Tagen zu verstehen.“ Die neue Reisefreiheit ist grenzenlos – aber nicht unbegrenzt.

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