Kinderbücher beim Staatsanwalt: Leben im Vakuum

Russische Verlage müssen nicht nur mit legendären Literatur-Klassikern konkurrieren, sondern auch mit rigiden Wertevorstellungen heutzutage.

Als der Verlag "KompasGuide" vor fünf Jahren die Reihen kleinerer konzeptioneller Verlage bereicherte, lagen Neuauflagen sowjetischer Klassiker im Trend. Zu diesem Zeitpunkt fand in der Branche eine strikte Trennung zwischen "Neuem" und "Unserem" statt.

Wir haben eine "neue" Form der Kinder- und Jugendliteratur angeboten, die nicht der traditionellen Definition entsprach, wenn es um das Begreifen der Erwachsenenwelt durch das Kind ging. Wir wollten, dass Kinder und Erwachsene gemeinsam Dinge erleben und darüber diskutieren. Anklang fand dieses Konzept jedoch lediglich bei dem kleinen fortschrittlichen Teil der russischen Gesellschaft.

Lebt in Moskau, Chefredakteur des Verlages „KompasGuide”, Kavalier des „Goldenen Ehrenkreuzes” für Verdienste um die Verbreitung ungarischer Literatur.

Wir zeigten so aber, dass der Autor einen eigenen Standpunkt haben kann und dass neue Bücher neben den Klassikern eine Berechtigung im Bücherregal haben. Wir waren überzeugt, dass der lang ersehnte "Raum für Dialog" gerade im Entstehen begriffen war und dass die Eltern das Recht hätten, selbst zu entscheiden, welche Bücher ihre Kinder lesen sollten.

"Nicht korrekte Bücher"

Doch der Dialog endete abrupt, als plötzlich in Staatsmedien, Schulen und Bibliotheken Begriffe wie "traditionelle Werte", "patriotische Erziehung" und "nationales Programm" erklangen. In ganz Russland reichten gemeinnützige Organisationen Beschwerden bei Behörden ein über "nicht korrekte" Bücher, woraufhin Kinderbüchereien durch die Staatsanwaltschaft inspiziert wurden. Die Regierung sprach von "Informationssicherheit". Für die "verunsicherten Bürger" wurde im September 2012 das "Gesetz zum Schutz der Kinder vor schädlichen Informationen" verabschiedet, das das russische Verlagswesen auf "traditionelle Werte" zurückwarf.

In den Redaktionssitzungen der Verlage wird nun ernsthaft über die Jugendfreigabe von Büchern diskutiert, wenn Piraten darin Pfeife rauchen und Rum trinken. Die Redaktion wird nervös, wenn sich die Eltern der Protagonisten scheiden lassen (dies könnte ein Anlass für Denunzierung sein, da traditionelle Familienwerte in Gefahr sind). Skripte wandern "bis zu besseren Zeiten" in die Schublade, wenn eine der Figuren homosexuell ist, da dies im Sinne des neuen Gesetzes als Propagierung der Homosexualität bei Minderjährigen gilt. Aufklärungsbücher für Heranwachsende werden konfisziert, und schließlich werden Verleger zum Staatsanwalt zitiert, nur weil ein Abgeordneter via Twitter die Farbgestaltung der litauischen Flagge in einer Kinderenzyklopädie bemängelte.

Die Olympischen Spiele sind ein Symbol der Einigkeit, eine aufregende, beglückende Zeit für Sportler und Zuschauer. Doch was tun mit einer Gesellschaft, die sich im Zustand eines "Informationsvakuums" befindet? Einer gespaltenen Gesellschaft, in der sich das "Neue" und das "Unsere" gegenüberstehen?

VITALIJ ZIUSKO