Kinderbücher, die vor Fremden warnen: Schmeißt diese Bücher weg!

Unzählige Kinderbücher wollen vor sexualisierter Gewalt schützen. Aber die Botschaft „Ich gehe nicht mit Fremden mit“ ist fatal.

Ein Spielplatz

Ein Spielplatz im Regen. Wo sind all die Kinder hin? Foto: dpa

Max, ein Kindergartenkind, ist mit seiner Mutter einkaufen. Irgendwann hat er keine Lust mehr, seine Mutter sagt: Warte auf dem Spielplatz, wo dein Freund Nico ist, ich hol dich dort ab. Max und Nico bauen Sandburgen, dann beginnt es zu regnen. Alle Kinder und ihre Eltern gehen nach Hause. Max bleibt allein zurück.

Da kommt ein Mann mit Regenschirm, der in der selben Straße wohnt, und fragt, ob er Max nach Hause bringen soll. Max überlegt – seine Mutter hat gesagt, er solle niemals mit einem Fremden mitgehen. „Wer weiß, was das für einer ist“, denkt sich Max. „Eine verwandelte Hexe? Oder ein Kinderklauer?“ Er sagt Nein, der Mann geht. Max ist bis auf die Haut nass. Dann kommt seine Mutter und entschuldigt sich, dass sie so lange an der Kasse warten musste. Sie sagt, Max habe alles richtig gemacht, und kocht ihm zu Hause einen Kakao.

Das Buch heißt „Max geht nicht mit Fremden mit“ und hat auf Amazon 53-mal fünf Sterne. „Ein wichtiges Thema, eine schöne Geschichte, ein perfektes Ende.“ – „Die Geschichte ist gut gewählt, und meine Tochter hat die Botschaft mit dem Kinderklauer und der Hexe sofort verinnerlicht.“ – „Fazit: absolut empfehlenswert!“

Ich finde: Der sympathischste Erwachsene in diesem Buch ist der Mann, der Max Hilfe anbietet.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Wenn „Max geht nicht mit Fremden mit“ nur irgendeins in der viel zu großen Bibliothek schlechter Kinderbücher wäre, würde es sich nicht lohnen, darüber eine Zeitungsseite vollzuschreiben. Aber leider ist es Ausdruck von etwas, das gesellschaftlich verdammt schiefläuft: der Art, wie wir über sexualisierte Gewalt sprechen und wie wir versuchen, Menschen davor zu schützen.

Es gibt da nämlich auch „Conni geht nicht mit Fremden mit“ und „Jule geht nicht mit Fremden mit“. Alles Pixi-Bücher – diese kleinen, die man für 99 Cent vom Wühltisch der Bahnhofsbuchhandlung fischt. Daneben gibt es stapelweise andere Bücher mit derselben Botschaft, auch eins von Veronica Ferres. „Ab 3 Jahren“, steht auf der Rückseite der Geschichte von Max.

Um es klar zu sagen: Bitte lesen Sie niemals Kleinkindern solche Bücher vor. Und wenn Sie sie in Ihrem Regal finden: Schmeißen Sie sie in den Müll.

„Geh nicht mit Fremden mit“ ist der kleine Bruder von „Zieh keinen so kurzen Rock an“. Es sind Handlungsratschläge an potenzielle Opfer. Sie stellen einen Zusammenhang her zwischen ihrem Verhalten und der Wahrscheinlichkeit, dass ihnen Gewalt geschieht.

In dem Buch „Ich kenn dich nicht, ich geh nicht mit!“ verhindert eine ältere Frau aus der Nachbarschaft gerade noch, dass Hannah mit einem Mann mitgeht, der ihr ein Welpenfoto gezeigt hat. Das Ende der Geschichte: „Mama weint. Und da weint Hannah auch. ‚Es ist ja alles wieder gut‘, tröstet Charlottes Mama. ‚Wie gut, dass zwei aufgepasst haben – Frau Winterhage und Charlotte.‘ ‚Nein!‘, ruft Mama. 'Jedes Kind muss selbst aufpassen!“

‚Ja‘, sagt Charlotte.“

Jedes Kind muss auf sich selbst aufpassen. Das ist die Botschaft. Und wenn ein Kind das im Ernstfall nicht schafft?

Ich befürchte: Mit der Auf-sich-aufpassen-­Regel im Kopf ist es schwer, sich nicht mitschuldig zu fühlen. Weil man sie verletzt hat. Dabei wäre das wichtigste Mantra: Es ist immer – immer! – der Täter verantwortlich. Das klingt banal. Aber es ist gerade erst vier Monate her, dass eine Anwältin im Abschlussplädoyer eines Vergewaltigungsprozesses erwähnte, das mutmaßliche Oper habe einen Tanga mit Spitze getragen.

Erziehung mit Angst

Es ist verständlich, dass Menschen Angst davor haben, jemand könnte ihr Kind verletzen. Ein Freund fragte mich: Wenn es ein einziges Kind gibt, dass durch solche Geschichten eine Möglichkeit im Kopf hat, sich aus einer Situation zu retten – reicht das nicht schon als Legitimation?

Ich finde: Nein. Denn diese Rechnung ignoriert den Schaden, den solche Erzählungen anrichten. Es ist Erziehung, die mit Ängsten arbeitet statt mit Ermächtigung.

„Du darfst niemals mit Fremden reden“, sagte eine Freundin ihrer Tochter, fünf Jahre alt, die seit Kurzem samstags alleine die Brötchen holt. Ich als Erwachsene verstehe, was sie meint. Aber was hört ein Kind? „Aber mit der Verkäuferin darf ich reden, oder?“, fragte die Tochter zurück.

In der Großstadt begegnen einem Kind fast ausschließlich Fremde. Die Gemüsehändlerin, die fragt, ob es einen Apfel möchte. Der Mensch, der in der U-Bahn die blinkenden Gummistiefel feiert. Der Jugendliche, der ihm auf der Straße hinterherruft, weil ein Handschuh liegen geblieben ist. Wollen wir ihm verbieten, mit ihnen zu sprechen? Was für eine Gesellschaft entsteht, wenn wir Kindern beibringen, dass von Fremden grundsätzlich etwas Schlechtes zu erwarten ist?

Nachts im Park

Die Idee, dass der Vergewaltiger ein fremder Mann ist, hat sich eingebrannt. Ich fürchte mich nachts auf dem Heimweg durch den Park, dass jemand in den Büschen lauern könnte. Obwohl ich weiß, dass es viel wahrscheinlicher ist, von dem Typen vergewaltigt zu werden, der eben auf der Party unbedingt noch weiterquatschen wollte.

Die harte Realität: Die allermeisten sexualisierten Übergriffe und die allermeiste Gewalt an Kindern geschieht im Vertrauten. Nur etwa 20 Prozent der Täter_innen sind für die Betroffenen Unbekannte. Und bei dieser Gruppe geht es größtenteils um Exhibitionismus.

Im Vergleich: Allein 30 Prozent der Missbrauchenden kommen aus dem engsten Familienkreis oder dem Haushalt des Kindes. Das sind die offiziellen Zahlen der Polizei – alle Expertinnen gehen davon aus, dass der Prozentsatz noch deutlich höher liegt, weil Vertraute viel seltener angezeigt werden.

Die Art wie Täter konstruiert werden, ist mehr als unbedarfte Pädagogik. Der „Kinderschänder“ erfüllt eine gesellschaftliche Funktion. Er ist „der Andere“, möglichst fremd, möglichst weit weg. Damit lenken wir davon ab, dass es um alle geht.

Wir überschreiten ständig Grenzen. Ich zwinge meinen Kindern meinen Willen auf, lasse sie nicht über ihren Körper bestimmen, jeden Tag. Wenn ich sie hochhebe, ohne zu fragen. Oder mit Sonnenmilch eincreme, obwohl sie das nicht wollen.

Das ist etwas anderes. Aber auch dasselbe.

Es ist ziemlich gemütlich, seinen Kindern ein Buch vorzulesen über den gefährlichen Mann mit dem Welpenbild, mit ihnen dreimal den Satz zu üben: „Nein, mit Fremden geh ich nicht“, und dann mit dem guten Gefühl einzuschlafen, etwas dafür getan zu haben, dass ihnen nichts geschieht.

Prävention ist anstrengend

Ich kann das gut verstehen. Wirkliche Prävention von Missbrauch ist nämlich anstrengend. Weil sie Dinge beinhaltet, die auch Erwachsene nicht richtig können und die im Alltag oft nerven.

Zum Beispiel Kindern beizubringen, dass auch Erwachsene Fehler machen und man ruhig sagen darf, wenn sich etwas nicht richtig anfühlt. Nein sagen. Spüren lernen: Was fühlt sich gut an? Wie heißt dieses Gefühl?

Empfindungen äußern dürfen. Und die Erfahrung machen, dass sie dann nicht sofort infrage gestellt werden. Über den eigenen Körper, über Nähe und Distanz entscheiden dürfen. Nicht küssen, kuscheln, raufen müssen, selbst wenn Tante Anna beleidigt ist. Geschlechtsteile benennen und so selbstverständlich über sie reden wie über Zeh und Ellenbogen. Grenzen setzen und die Grenzen anderer beachten.

Und im besten Fall: lernen, dass man in Not­si­tua­tio­nen von anderen Hilfe erwarten kann. „Denn alle, die groß sind, sollen sich um die kümmern, die klein sind. So ist das.“ So endet ein tolles Kinderbuch zu Gewalt in der Familie.

Ich habe lange überlegt, was ich zu Max gesagt hätte, der auf dem Sandkastenrand sitzt. Vielleicht hätte ich ihm angeboten, gemeinsam mit dem Regenschirm auf seine Mutter zu warten. Oder ihm zumindest den Regenschirm geschenkt.

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Kam 2009 als Volontärin zur taz, war ab 2010 Redakteurin der Wochenendausgabe und seit 2016 deren Vize-Ressortleiterin. Dort betreute sie die Titelgeschichten. Für ihren Text "Das Ende der Angst" bekam sie 2015 den Medienpreis der Deutschen Aids-Stiftung, für eine Langstrecke über männliche Verhütung war sie für den Reporter*innenpreis in der Kategorie Wissenschaftsjournalismus nominiert, außerdem wurde sie zweimal vom Medium Magazin ausgezeichnet. Sie arbeitete am Innovationsreport der taz mit, war knapp zwei Jahre verantwortlich für die Weiterentwicklung der taz im Netz und ein Jahr lang Entwicklungsredakteurin der Chefredaktion für Reportage und Recherche im taz-Investigativteam. Seit 2022 leitet sie das neue Zukunftsteam der wochentaz zu Klima, Wissen und Utopien und ist Mitautorin des Newsletters TEAM ZUKUNFT. Luise Strothmann unterrichtet Reportage an der katholischen Journalistenschule ifp, ist in der Auswahlkomission der Nannenschule und Teil der Jury des Egon-Erwin-Kisch-Preises.

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