Kinderstudie: Aus mir wird nie was werden

Die neue "World Vision"-Kinderstudie zeigt, dass schon Zehnjährige sich und ihre Zukunft aufgeben, wenn sie von ihren Eltern nicht beizeiten gefördert werden.

Manchem Hauptschüler erscheint jedes Mühen sinnlos Bild: dpa

Dennis Welt ist überschaubar. Er fährt in die Schule, er fährt zurück. Meist sitzt er in seinem Zimmer, hört Radio und schiebt Miniautos über den Boden. Mitschüler darf er nicht treffen, die wohnen zu weit weg. Die Mutter, die von Hartz IV lebt, will nicht mit ihm spielen. Der Vater, der eine neue Frau liebt, ruft nie zurück. Dennis ist zehn. Es fällt ihm schwer, einen Satz zu bilden, der mehr als fünf Worte umfasst. Was er mit seinem Leben machen will? Achselzucken.

Anders Kristina. Jede Woche besucht sie viele Orte in ihrer Stadt: die Musikschule. Die Schwimmhalle. Die Ballettschule. Das Haus, wo die beste Freundin wohnt. Das Haus, wo die zweitbeste Freundin wohnt. Selbstverständlich will die 8-Jährige das Gymnasium besuchen - schon, damit sie sich später mal ein Reitpferd leisten kann.

Die beiden Einblicke entstammen der neuen "World Vision"-Kinderstudie: Erstmals haben Forscher repräsentativ die Einstellungen der Acht- bis Elfjährigen abgefragt. Die Daten zeigen nicht nur, wie deutlich die Lebenswelten von Kindern auseinanderdriften. Sie offenbaren auch, wie früh sich Kinder selbst aufgeben. Eindringlich belegt sie, wie sehr ihr Selbstbewusstsein von Bildung und Geldbeutel der Eltern abhängt.

Schon länger ist bekannt, dass manchem Hauptschüler jedes Mühen als sinnlos erscheint: Warum soll er sich bis zu einem Schulabschluss quälen - wenn er später sowieso nie eine Lehrstelle finden wird?

Nicht erhellt aber war bislang, wie früh sich dieser Fatalismus entfaltet. Die neue Studie zeigt, dass er auch schon in die Köpfe junger Kinder gerät. Dass er sich breitmacht, schon bevor das schulische Aussondern - das Aufteilen in Gymnasiasten und Hauptschüler - beginnt. Nur 20 Prozent der Kinder aus benachteiligten Familien können sich vorstellen, das Abi zu schaffen. Bei den Oberschicht-Kindern sind es 80 Prozent. Nur jedes vierte Unterschicht-Kind hält sich für einen leistungsfähigen Schüler. Bei Oberschichtlern sagen drei Viertel: Natürlich bin ich gut. Schwer lässt sich da trennen, was eine realistische Einschätzung ist - und was zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird. Deutlich aber wird, wie sehr die soziale Herkunft darüber bestimmt, was Kinder sich zutrauen.

Viele Chancen haben diese Kinder nicht, ihr Selbstbewusstsein zu päppeln: Unterschicht-Kinder haben laut Studie weniger Freunde. Sie haben seltener Eltern, die sich wirklich um sie kümmern. Sie leben in Wohnungen, die eng und laut sind. Vor allem aber erleben sie eine Kindheit, die erschreckend eintönig ist.

Die Daten belegen einen klaren Zusammenhang: Je aktiver Kinder in ihrer Freizeit sind - umso erfolgreicher sind sie in der Schule. Das Land fällt auseinander in Kinder, die zwischen Turnen und Tennis, Blockflöten- und Theater-AG pendeln und nur für die Lieblings-Soap den Fernseher einschalten. Und in Kinder, für die Fernseher und Playstation die einzige Unterhaltung sind. Hier liegt laut Klaus Hurrelmann, Autor der Studie, auch eine Ursache, warum die Mädchen selbstbewusster sind: Der vermeintliche Mädchenkram - Basteln, Tanzen, Pferdebücher-Lesen - "ist in Wahrheit sehr wichtig für die geistige Entwicklung".

Und genau an diesem Punkt ist das Elternhaus entscheidend. Zwar ist es richtig, dass manche Kinder überfordert sind vom elterlichen Ehrgeiz, der sich über den Umweg Kind am Klavier oder der Ballettstange austobt. Weit dramatischer aber, das belegen die neuen Daten, ist die Lage am anderen Ende der Skala. Für ein Kind ist es elementar, ob es Eltern hat, die es zum Sportverein oder Flötenkurs anmelden. Die auch selber mal zum Buch greifen. Die ihnen vorleben, dass Freizeit aus mehr besteht als aus einem bequemen Sofaplatz.

Und doch leben laut Hurrelmann rund ein Viertel der Kinder bei Eltern, die ihnen zu wenige Impulse für ihre Entwicklung geben. "In unserem heutigen System sind Kinder auf Gedeih und Verderb auf ihre Eltern angewiesen. Für viele ist das fatal", sagt der Soziologe.

Gerade die Kinder, die Anerkennung dringend nötig hätten, haben also oft nicht einmal die Ressource "Hobby". Dabei wäre es gerade für sie wichtig, einen Bereich zu haben, in dem sie das Fußball-As sind oder die gelenkige Turnerin - und nicht der Schulversager, der sich nicht mal ein Paar schicke Schuhe leisten kann.

Die Studie offenbart also für Politik wie Pädagogik eine Fülle von Herausforderungen. Einige Antworten sind bereits bekannt. Um der armen Kinder willen braucht es mehr Kitas und Ganztagsschulen - also Instanzen, die die Versäumnisse des Elternhauses abfedern.

Die Studie legt aber nahe, dass dies alleine noch nicht genügt. Sie vermittelt, wie zentral es ist, auch Denken zu verändert: Wie schafft man es, dass auch das Hartz-IV-Kind eine Art amerikanischen Tellerwäschermythos verinnerlicht? Dass es im festen Glauben lebt, es könne alles erreichen, wenn es nur ackert und büffelt und sich selbstbewusst unter die Arzt- und Anwalts-Kinder drängt?

Die Fragen sind gestellt, die Daten erhoben. Für die Forscher beginnt nun Phase zwei der Debatte: das Fahnden nach Antworten.

Die Richtung immerhin ist klar. Stärker als bisher muss die Gesellschaft Kinder aus ihren Familien herauslösen. Sie dürfen nicht für immer gezeichnet sein, nur weil sie zufällig Kinder überforderter Eltern sind.

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