Kindeswohl: "Für uns war es nicht zu sehen"

Nach dem Tod des Mädchens Chantal in Hamburg wird wieder über Kinderschutz diskutiert. Ein Gespräch mit der Mitarbeiterin eines Jugendtreffs, den auch Chantal besucht hat.

Werden von einer Trauergruppe auf- und von Chantals Familie weggestellt: Kerzen und Kuscheltiere. Bild: dpa

taz: Hat es nach dem Tod des Mädchens Chantal greifbare Konsequenzen bei den Jugendämtern gegeben, Frau Walter?

Friederike Walter: Ich finde es schwierig, abschließend etwas dazu zu sagen. Ich habe nur ab und zu Kontakt mit dem Jugendamt – was auf der einen Seite gut ist, weil die Kinder freiwillig zu uns kommen und wir nur dann etwas weitergeben, wenn es etwas Außergewöhnliches gibt.

Was wäre so etwas „Außergewöhnliches“?

Es ging um den Verdacht auf häusliche Gewalt und einmal hatten wir einen Verdacht auf sexuellen Missbrauch.

Die Frage, wann und woran man Kindesmisshandlung merken kann, wird seit Jahren diskutiert. Zeigt sich das in Ihrem Arbeitsalltag?

Ich bin seit zwei Jahren in der Arche dabei. Wir versuchen als Mitarbeiter die Informationen, die wir über die Kinder haben, auszutauschen. Zum Beispiel, wenn sich in der Familie etwas verändert, eine Partnerschaft auseinandergeht oder ein Baby kommt. Das ist unsere Konsequenz aus dem Tod von Chantal. Wir versuchen auch vermehrt, mit den Familien in Kontakt zu treten. Das gelingt auch – natürlich je nachdem, ob die Leute es wollen, wir drängen uns da nicht auf.

49, Gemeindepädagogin und Mitarbeiterin der Arche in Hamburg-Wilhelmsburg, einem Kinder- und Jugendwerk der Evangelisch-Methodistischen Kirche.

Ist das Heikle nicht, dass gerade Familien mit Problemen keinen Besuch wollen?

Ich komme von keiner Behörde, ich bin komplett unabhängig, weil die Arche keinerlei öffentliche Mittel in Anspruch nimmt. Daher komme ich als Privatperson beziehungsweise als Nachmittagsbetreuerin der Kinder.

Haben Sie schon die Erfahrung gemacht, unerwünscht zu sein?

Ja. Einmal hatte ich eine Einladung abzugeben und einmal auch eine Sache zu klären, da wurde ich jeweils nicht hereingebeten.

Ist nicht gerade das ein Alarmzeichen?

Das ist schwierig. Ich möchte auch nicht meine Kompetenzen überschreiten. Bei einem Kind hatte ich den Verdacht auf häusliche Gewalt und das Jugendamt, das selbst auch nachgucken wollte, hatte mich gebeten, ebenfalls Kontakt aufzunehmen. Ich kam an die Eltern aber nicht heran, das haben wir zurückgemeldet, aber danach habe ich vom Jugendamt nichts mehr gehört.

Die elfjährige Chantal ist am 16. 1. 2012 an einer Methadonvergiftung gestorben. Die Tabletten hatte sie im Haus der Pflegeeltern in Hamburg-Wilhelmsburg gefunden. Chantal hatte dort, wie sich später zeigte, kein eigenes Bett. Das Jugendamt wusste nichts von der Sucht der Pflegeeltern.

Als Konsequenz trat der Bezirksamtschef Mitte, Markus Schreiber (SPD), zurück, der behauptet hatte, dem Kind sei es gut gegangen.

Alle Hamburger Pflegeeltern wurden auf Suchtprobleme und Straftaten überprüft. Künftig müssen sie neben dem Führungs- ein Gesundheitszeugnis vorlegen.

Haben Sie da nachgehakt?

Ja, aber ich habe keine Auskunft bekommen.

Mit welcher Begründung?

Ich habe damals auf einen Anrufbeantworter gesprochen und keinen Rückruf bekommen. Ich weiß nicht mehr, ob ich dann noch einmal nachgehakt habe. Dann ist aber auch das Kind nicht mehr zu uns gekommen.

Geht Ihnen so etwas nach?

Auf jeden Fall. Ich habe das Kind später noch einmal getroffen und gefragt und es sagte mir: „Nein, nein, es ist nicht mehr so, es hat sich alles gebessert.“ Das muss ich dann so stehen lassen. Kinder schützen ihre Familien, selbst wenn dort Gewalt vorkommt – das muss ich dann ein Stück weit respektieren.

Wie häufig sind solche Verdachtsfälle bei Ihrer Arbeit?

Es ist eher die Ausnahme. Aber seit dem Tod von Chantal sind wir wirklich aufgeschreckt. Sie war jemand, den wir ganz bestimmt so nicht im Blick hatten. Offensichtlich sieht man es eben doch nicht. Das ist ja das, was alle im Nachhinein erstaunt hat und ich glaube, dass Menschen, die in der Nähe wohnten, mehr gemerkt haben als wir, eine Einrichtung, die dreimal pro Woche nachmittags geöffnet hat.

Haben Sie sich persönlich gefragt, warum Sie nichts gemerkt haben?

Dass sie in schwierigen Lebensumständen war, war klar. Dass kann sich jeder denken, der weiß, dass ein Kind in einer Pflegefamilie ist – das ist das Ende einer ganz langen Geschichte, die das Jugendamt mit einer Familie und einem Kind hat. Ich hatte nicht all die Informationen, die ein Jugendamt hat, da geht man dann nach dem eigenen Eindruck.

Und wie war der?

Ich habe die Pflegefamilie als organisiert erlebt, da kamen die Gelder für Ausflüge rechtzeitig an, da hat sich die Pflegemutter nach Vorfällen, die hier waren, erkundigt. Die Eltern hatten ein hartes Leben, das hat man gesehen, aber eine Vernachlässigung war von mir nicht zu erkennen. Die Kinder waren gut angezogen, sie waren sauber, sie haben nicht unmäßig gegessen, so dass man den Eindruck gehabt hätte, sie bekämen sonst nichts.

Woran haben Sie das harte Leben der Pflegeeltern festgemacht?

Am Äußeren.

Und wonach hat sich die Pflegemutter erkundigt?

Bei einer Gelegenheit hatte ein Kind Geld gestohlen und die Beute mit zwei Jungen geteilt, einer davon vor der leibliche Sohn der Pflegefamilie. Der ist dann mit einer Spielzeugpistole nach Hause gekommen, die Mutter bemerkte das und so kam die Geschichte heraus. Sie hat mir dann einen Brief geschrieben und ihrem Sohn die fünf Euro mitgegeben, die er bekommen hatte. Die sollten dem bestohlenen Kind zurückgegeben werden.

Also eine Mutter, die sich kümmert.

Natürlich. Bei den anderen hat das eine Kind gezahlt, nachdem ich zur Familie hingegangen war und beim dritten passierte gar nichts.

Es klingt so, als wäre das Fazit für Sie, dass man nichts hätte anders machen können.

Ich kann nur für mich sprechen und von dem, was ich gesehen habe, war es nicht möglich. Wir haben im Mitarbeiterkreis eine regelmäßige Supervision, wo wir darüber gesprochen haben und eigentlich haben wir alle gesagt: Es ist furchtbar, das sagen zu müssen, aber für uns war es nicht zu sehen.

Wie waren die Reaktionen in Wilhelmsburg?

Gestern stand im Wochenblatt, dass es eine Trauergruppe gibt, die sich jeden Mittwoch in einem Café trifft und Chantal betrauert und vor dem Fenster Kerzen und Plüschtiere aufstellt – die die Pflegefamilie wegräumt. Es hat hier eine Art Kleinkrieg angefangen und ich möchte der Familie nicht zu nahe treten.

Ihr Eindruck war ja ein positiver.

Natürlich war mir klar, dass das Leute sind, die eine Vergangenheit haben. Aber ich habe nie groß darüber nachgedacht, ich dachte, wenn das Jugendamt dort Pflegekinder hineintut, dann wird da jemand im Blick haben, was in der Familie läuft.

Wie ist aus Ihrer Sicht die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt?

Sehr wechselhaft. Einmal war ich vorstellig geworden, da bekam ich einen Termin, man nahm sich Zeit und hat Sachen zu Protokoll genommen. Wenn ich nur anrief oder Briefe schrieb, habe ich keine Antwort bekommen. Das eine Mal, als ich dort war, konnte ich die Aktenberge bei der Sachbearbeiterin sehen, das ist grotesk. Nach dem bisschen, was ich dort gesehen habe, kann ich mir gut vorstellen, dass die Mitarbeiter heillos überarbeitet sind.

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