Kino in der Weimarer Republik: Fräulein Else ahnt den Kollaps

Zeichnete sich der Nationalsozialismus im Kino der Weimarer Republik ab? Der Film „Von Caligari zu Hitler“ untersucht diese These.

erschrockene Frau mit weißem Pelz

Elisabeth Bergner in Paul Czinners Stummfilm „Fräulein Else“ (1929). Foto: Cineteca di Bologna

BERLIN taz | Die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von Siegfried Kracauers Buch „Von Caligari zu Hitler“ gibt genug Material für einen Dokumentarfilm her, ganz zu schweigen von einer interessanten Mentalitätsstudie über Nachkriegsdeutschland. Kracauers 1948 erstmals auf Englisch publiziertes Buch ist ein Standardwerk der Filmtheorie, seine Mischung aus Filmanalyse, Gesellschaftskritik und Psychoanalyse – gemäß dem Motto, ein Filmkritiker von Rang sei nur als Gesellschaftskritiker denkbar – gilt bis heute als Referenz für jede ernsthafte Auseinandersetzung mit der Massenkunst Kino.

Und das, obwohl „Von Caligari zu Hitler“ in Deutschland lange Zeit nur in einer grausam verstümmelten Edition erhältlich war. Eine Mentalitätsgeschichte des Weimarer Kinos, dessen prägende Köpfe entweder zur Flucht ins Exil gezwungen oder in den Konzentrationslagern der Nazis umgebracht wurden, wollte man der deutschen Nachkriegsgesellschaft nicht zumuten. Kritiker nannten Kracauer einen Nestbeschmutzer, sein Verlag entschärfte die hellsichtigen Thesen in vorauseilendem Gehorsam. Von Kracauers sorgfältiger Methodik blieb in der deutschen Erstausgabe nur eine steile und in derart entkernter Form unhaltbare These übrig.

Der Filmjournalist Rüdiger Suchsland hat nun einen Dokumentarfilm gedreht, der Kracauers Kernthese, dass sich in Motiven und Blickweisen des Weimarer Kinos der gesellschaftliche Kollaps und die heimliche Sehnsucht nach einem totalitären Erlöser ankündigten, als dramaturgischen Leitfaden spinnt.

Suchsland hat einen entscheidenden Vorteil: Als Kracauer in den 1940er Jahren unter dem Eindruck der politischen Entwicklung in Deutschland an seinem Buch zu arbeiten begann, basierte ein Großteil seiner Analysen auf zwanzig Jahre alten Notizen, die er als Redakteur und Filmkritiker der Frankfurter Zeitung gemacht hatte. Kracauer, der jüdisch war, floh 1933 nach Paris; von 1941 bis zu seinem Tod im Jahr 1966 lebte er in New York. Der große zeitliche Abstand und die willkürliche Auswahl seiner Filmbeispiele wurden ihm von seinen Kritikern in der Vergangenheit immer wieder vorgehalten.

Eine faszinierende Dokumentation

"Von Caligari zu Hitler“. Regie: Rüdiger Suchsland. Dokumentarfilm, Deutschland 2014, 113 Minuten. Film-Website: www.caligarihitler.net.

Suchsland dagegen kann sich heute auf den aktuellsten Stand der Filmforschung stützen. Die Quellenlage hat sich verbessert, weil in den vergangenen 20 Jahren in den Filmarchiven große Wissenslücken zur Geschichte des Stummfilms geschlossen werden konnten. Er hat zudem durch die Kooperation mit der Friedrich Wilhelm Murnau Stiftung, die die Rechte an einem Großteil der überlieferten Filme des Weimarer Kinos hält, unbeschränkten Zugriff auf die Kinobilder jener Jahre – noch dazu in einer dank umfangreicher Restaurierungen bestechenden Qualität. Allein dieser Bilderfundus, gerade im Fall von fast vergessenen Regisseuren wie Werner Hochbaum oder Gerhard Lamprecht, macht „Von Caligari zu Hitler“ zu einer faszinierenden Dokumentation.

Methodisch versucht Suchsland jedoch etwas anderes als Kracauer, was schon der Untertitel seiner Dokumentation andeutet. „Das deutsche Kino im Zeitalter der Massen“ klingt ergebnisoffener als Kracauers „Eine psychologische Geschichte des deutschen Films“ – ein Umstand, der wohl der kritischen Revision von Kracauers These geschuldet ist und dessen rigoroser Methodik letztlich doch nicht ganz gerecht wird.

So setzt Suchsland gerade an den Punkten, an denen Kracauer mit genauen Szenenanalysen den morbiden Charakter des Weimarer Kinos herauszuarbeiten versuchte, auf die bereits bekannten Wahn- und Traumbilder aus „Das Cabinet des Dr. Caligari“ oder „Dr. Mabuse“. Die mitunter enervierend beflissenen Off-Kommentare im Kulturradio-Jargon tun ihr Übriges, eine eigentlich methodisch dezidierte Bilderexegese immer wieder atmosphärisch aufzulösen.

Suchsland nähert sich dem Kino eher phänomenologisch, fragt gleich zu Beginn seiner Dokumentation nach dem Gesicht der Weimarer Republik, um bei Christl und Brigitte, zwei Protagonistinnen aus Robert Siodmaks, Edgar G. Ulmers und Billy Wilders „Menschen am Sonntag“ zu landen, die als exemplarische Vertreterinnen der Weimarer Jahre auch durch „Von Caligari zu Hitler“ führen.

Der Modernist Kracauer

Suchsland interessiert sich mehr für den Modernisten Kracauer, der sich am Rhythmus und den Zufälligkeiten der Großstadt erfreute, als für den Soziologen. Dieses Interesse spiegelt sich auch in der Montage der Filmszenen wider, die kaum einmal zur Ruhe kommt. Selten konzentriert sich „Von Caligari zu Hitler“ auf eine genaue Szenenanalyse oder gibt den Filmszenen genug Zeit, Wirkung zu entfalten, obwohl Suchsland es etwa am Beispiel von Robert Reinerts „Nerven“, den er im Vergleich mit „Caligari“ den moderneren Film nennt, oder Paul Czinners „Fräulein Else“ sehr gut vorführt.

Eine deutsche Variante von Jean-Luc Godards „Histoire(s) du cinéma“ ist „Von Caligari zu Hitler“ also nicht geworden, obwohl der Wille zu spüren ist. Vielleicht eignen sich das vorbelastete Material und erst recht Kracauers Buch aber auch nicht für spielerische Assoziationen wie bei Godard.

„Von Caligari zu Hitler“ ist zu sehr Kracauers Thesen verhaftet, setzt dessen Methode dafür aber nicht konsequent um. Doch das eigentliche Problem scheint zu sein, dass die Filmforschung heute viel weiter ist, als Suchsland in seinem Umgang mit dem historischen Material zugesteht.

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