Kinoempfehlung für Berlin: Pionierin des Dokumentarfilms

Eine Werkschau im Zeughauskino über die Dokumetarfilmerin Ella Bergman-Michel eröffnet eine vitale Szene der späten Weimarer Republik.

Immer mit der hand­gekurbelten unterwegs: Ella Bergman-Michel Foto: Sünke Michel

Die Schlange vor der Essenausgabe wächst schnell. Um sie in ihrer ganzen Länge zu zeigen, muss die Kamera einen Schwenk machen. Die Folgen der Krisenzeit der Weimarer Republik sind in Ella Bergmann-Michels „Erwerbslose kochen für Erwerbslose“ von 1931 klar zu erkennen. In einer Baracke auf einer Brache in Frankfurt werden zahllose Mittagessen ausgegeben. Ein Schild an der Dachleiste der Baracke erinnert: „Morgen 2 Töpfe mitbringen.“ Brot wird auf dem Tisch aufgetürmt.

„Schon ein monatlicher Beitrag von 30 Pfennigen sichert 3 Menschen ein warmes Mittagessen!“, wirbt einer der Zwischentitel. Für 10 Pfennige kann man einen Liter Essen kaufen, das Essen mit nach Hause nehmen oder vor Ort essen. Der Film endet mit einem weiteren dringenden Aufruf zur finanziellen Unterstützung der Suppenküchen. Vor der Frankfurter Hauptwache wurde dieser Film open air gezeigt, die Spenden in einem Kessel gesammelt.

Die Reihe im Zeughauskino, die diesen und vier weitere Kurzfilme der Avantgardistin Bergman-Michel zeigt, verdeutlicht noch mehr als die Elendsgeschichte der Weimarer Republik. Sie bringt eine Frau und Künstlerin näher. Titel der Reihe: „Die Frau mit der Kinamo“, benannt nach der Handkamera, mit der Bergman-Michel arbeitete.

Ab 1914 hatte Ella Bergman-Michel an der Großherzoglichen Sächsischen Hochschule für Bildende Künste in Weimar studiert, die später zum Bauhaus wurde. Bevor sie zeitweilig zu einer Pionierin des Dokumentarfilms in Deutschland wurde, hatte sie als Fotografin gearbeitet.

Die Frau mit der Kinamo: Eröffnungsprogramm im Zeughauskino, Unter den Linden 2, mit Filmen von Ella Bergmann-Michel vom 19. bis 29. 9., Eröffnung am 19. 9., 20 Uhr

Die Kuratorin der Reihe im Berliner Zeughauskino, Madeleine Bernstorff, verortet die Ausnahmefilmemacherin heute in einem Netzwerk semiprofessioneller progressiver Filmkultur in der späten Weimarer Republik. Bernstorff und Kolleg*innen nehmen Bergman-Michel zum Zentrum der Eröffnung, um die Geschichte ihrer Szene zu erzählen.

Denn die Avantgardistin Bergmann-Michel war etwa auch Teil der Gruppe „Das neue Frankfurt“. Zusammen gab man die Monatsschrift für die Fragen der Großstadt-Gestaltung“ heraus, organisierte Filmprogramme und Vorträge.

Für die Filmreihe haben Bernstorff und Kolleg*innen auch eines der Filmaufführungsprogramme der Gruppe rekonstruiert. Zu sehen sind in diesem Zusammenhang drei Kurzfilme, die verdeutlichen, wie sich der Aufbruch der Weimarer Republik in Bauprogrammen der Zeit niederschlug.

Wilfried Basse dokumentierte in „Abbruch und Aufbau“ die Bauarbeiten am Alexanderplatz, Hans Richter stellte in „Die neue Wohnung“ eine Utopie des Häuslichen vor, die in jenen Jahren dabei war, Realität zu werden. Und wiederum Bergmann-Michel zeigte in „Wie wohnen alte Leute?“ die Bedingungen älterer Menschen in der Frankfurter Altstadt und stellte diese einem modernen Altersheim im Grünen gegenüber.

Seit den 1970er Jahren hatten Filmaktivist_innen die Werke Ella Bergman-Michels wiederentdeckt, auch der Rezeptionsgeschichte nimmt sich die Reihe im Zeughauskino an. 1977 unternahmen etwa der Filmwissenschaftler Gerd Roscher und Bergmann-Michels Schwiegertochter Sünke Michel bereits eine erste filmische Annäherung an die Filmpionierin: Ehemann Robert Michel vergegenwärtigt im Dokumentarfilm über die Dokumentarfilmerin die Situation der Entstehungsjahre.

Roscher selbst wendete sich daraufhin in „Wir machen unsere Filme selbst“ dem Arbeiterfilm der Weimarer Jahre insgesamt zu, arbeitete später auch ausführlich über das Werk des kommunistischen Medienunternehmers Willi Münzenberg.

„Die Frau mit der Kinamo“ porträtiert also, ausgehend von den Filmen Ella Bergmann-Michels, einen Komplex von miteinander vernetzten Filmemacher*innen verschiedener Zeiten, ihre Arbeitsweisen und Zusammenhänge, deren Ausgangspunkte allesamt mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten zerstört wurden.

In Ella Bergmann-Michels Fall trifft das buchstäblich zu: Bei den Wahlen im Juli und November 1932 dreht sie Straßenszenen des Wahlkampfes. SA-Aufmärsche, Mitläufer, Menschen, die am Straßenrand stehen. Der Titel ihres letzten Films: „Wahlkampf 1932 (Die letzte Wahl)“. Bei den Dreharbeiten wird sie verhaftet, große Teile des Materials vernichtet.

Nach 1945 setzte Bergman-Michel ihr politisch-künstlerisches Werk als Grafikerin fort. Die Wiederentdeckung Ella Bergmann-Michels als Filmemacherin ist auch eine historische Genugtuung.

Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg immer Donnerstags in der Printausgabe der taz

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