Kinofilm „Giraffe“: Rätselhafte Figuren und viele Fragen

Eine Ethnologin dokumentiert Häuser, die verschwinden. Anna Sofie Hartmanns Spielfilmdebüt „Giraffe“ mischt Feminismus und Zukunftsskepsis.

Dara blickt in einem heruntergekommenen Haus um sich.

Die Ethnologin Dara (Lisa Loven Kongsli) bei der Arbeit Foto: Grandfilm

Die titelgebende Giraffe taucht in Anna Sofie Hartmanns Filmdebüt gleich im ersten Bild auf. Sie kaut und schaut in die Landschaft. Selbstverständlich ist die Begegnung, zu der es dann im Kinosaal kommt, nicht die zwischen einer Giraffe und den Menschen, sondern die zwischen Menschen und einer Leinwand. Darauf erscheint dieses Bild einer Giraffe, hergestellt von einer Kamera zur künstlerischen Unter­haltung.

Die Bildgiraffe wendet den langen Hals und richtet den Kopf auf die Linse zu, blickt dem Publikum scheinbar direkt in die Augen. Und so macht das Bild darauf aufmerksam, dass ihm eine Realität zugrunde liegt, eine Kreatur. Das Wesen, das von Hartmann zusammen mit ihrer Kamerafrau Jenny Lou Ziegel fotografiert wurde, beansprucht im Blickkontakt seine Lebendigkeit, nachdem es von der Kamera konserviert wurde.

Wenige Minuten später gibt es im Film eine zweite Giraffe zu sehen, weniger deutlich, fast winzig, als gusseiserne Plakette an der Wand eines Wohnzimmers. Wie eine Erinnerung an die erste oder wie eine Verfremdung.

Das Tier ist zum Artefakt, zum Dekorationsgegenstand, es ist objektiviert worden. Dara (Lisa Loven Kongsli), die zentrale Person des Films, sitzt in diesem Wohnzimmer dem alten Ehepaar Birte und Leif gegenüber, die bald ihren Hof räumen müssen. Die Giraffe, ein Hauch Exotik im dänischen Alltag auf dem Land, rückt im Gespräch in den Hintergrund, denn es geht direkt um die konkrete Situation und das Verhältnis der beiden Menschen zu ihrem Haus.

„Giraffe“. Regie: Anna Sofie Hartmann. Mit Lisa Loven Kongsli, Maren Eggert u. a. Dänemark/Deutschland 2019, 87 Min.

Hier wurden ihre Kinder geboren und wuchsen auf. Der Hof ist seit Generationen im Familienbesitz. Birte weint, als sie davon erzählt. Denn der Fortschritt, der zweite, zentrale, aber unsichtbare Protagonist dieses Films, droht in naher Zukunft alles plattzuwalzen. Eine Fabrik zum Tunnelbau soll entstehen, das Ziel ist eine unterirdische Verbindung zwischen Dänemark und Deutschland. Dafür müssen zahlreiche Grundstücke weichen, die Menschen sollen für das Wirtschaftswachstum aus dem Weg geräumt werden.

Freigabe zum Abriss

Dara ist Ethnologin und dokumentiert für das Stiftsmuseum Lolland-Falster Gebäude und Biografien, bevor sie verschwinden. Dara erteilt die Freigabe zum Abriss, wenn ihre Arbeit abgeschlossen ist. Entsprechend steht sie der Zerstörung durch den Fortschritt relativ cool gegenüber und befragt das Ehepaar mit einer Mischung aus nüchterner Distanz und beruflichem Interesse. Sie wird das Ehepaar zum Abschluss des Gesprächs fotografieren.

Der Film zeigt dann die Perspektive des Fotoapparats mitsamt seiner Bildmarkierungen. Das Klacken des Apparats ist zu hören, als das Foto entsteht. Das Ehepaar wird bald verschwunden sein. Ebenso das Haus und die Wand mit der Giraffenplakette. Am Ende sind das Bild der beiden Menschen und ein paar von Dara abfotografierte Objekte das Einzige, was von dem Grundstück bleibt. Ihre Arbeit behauptet eine Wertschätzung, erlaubt jedoch im Grunde dem Fortschritt, mit gutem Gewissen voranzuschreiten.

„Giraffe“ entwirft langsam und bedächtig ein Netz von Gedanken und Fragen. Das macht den Film dicht, obwohl er nicht auf Tempo setzt und in seinen Bildern konsequent bewegungsarm bleibt. Beinahe zu dicht, da sind zu viele Gedanken und zu viele Fragen für knapp 90 Minuten: Was haben Bilder mit Menschen und deren Erinnerungen zu tun? Wer stellt Bilder her und aus welchen Gründen? Welches Menschenbild setzt sich im Kapitalismus durch? Wann sind Menschen und Orte entbehrlich und wen schmerzt ihr verschwinden?

Film der offenen Enden

„Giraffe“ ist ein suchender Film der offenen Enden und nicht einer der geschlossenen Behauptungen. Insofern sind die knappen 90 Minuten hier richtig gewählt. Nichts kommt zum Abschluss, selbst Dara bleibt eine weitestgehend rätselhafte Figur.

Hartmann macht am Ende das Tor zu, wenn das Gehirn auf Hochtouren läuft, und schickt die Menschen aktiviert und herausgefordert aus dem Kinosaal, zurück in ihre Lebensräume mit der Aufgabe, sie sich genauer anzusehen: „Die Orte sind es, die verbleiben, die man besitzen kann, die am Ende von einem Besitz ergreifen“, zitiert Dara in einer Szene am Strand die Schriftstellerin Rebecca Solnit und damit eine katastrophengeschulte Expertin zum Kollaps von Gesellschaftssystemen.

„Giraffe“ spielt in einer nahen, spekulativen Zukunft, in der drastische Veränderungen von Lebensweisen für die Menschen im Film unmittelbar bevorstehen.

Die Beziehung bleibt skizzenhaft

Nur eine kleine Geschichte hält die Fäden des Films zusammen: Dara lebt eigentlich in Berlin, arbeitet aber für einige Monate auf Lolland. Sie forscht, denkt über ihr nächstes Buch nach. Ihr Aufenthalt ist frei gewählt. Sie trifft Lucek (Jakub Gierszał), der ebenfalls woanders lebt und auf Lolland arbeitet. Seine Entscheidung ist jedoch unfrei. Er arbeitet, weil er Geld verdienen muss. Lucek ist Bauarbeiter und verlegt Glasfaserkabel, um die Tunnelbaustelle mit der Welt zu verbinden.

Dara stellt Lucek nach, beide beginnen eine Romanze, sie ist darin erfahrener und souveräner, während der junge Mann sich preisgibt und verliebt, verwundbar werden will für diese Frau, die er noch kaum kennt und die ihn jederzeit wegstoßen könnte. Die Beziehung der beiden bleibt skizzenhaft, und doch schreiben sich darin deutlich die Gewalten einer Welt ein, die nicht auf die Befreiung des Menschen ausgerichtet ist: ökonomische, biografische, geografische, politische.

Was gesagt wird und was die Figuren tun, ist von Gewicht, fühlt sich in diesem ruhigen, konzentrierten Film symbolisch an. Da sind Kräfte im Spiel, wie es ein Radiobeitrag früh im Film formuliert: „… die Kräfte, die die Laufbahnen der Planeten bestimmen sowie die eines Satelliten, der sich zwischen den Planeten bewegt.“

Zerstörerisch in ihrer Selbstbezogenheit

Hartmann verhandelt über die Geschichte der beiden Liebenden, wie Menschen Macht übereinander erlangen und ausüben, im Großen wie im Kleinen. Und Daras Handeln gewinnt an Härte und Abgeklärtheit, je mehr der Film über sie offenbart. Bald verschwimmen feministische und dystopische Signale. Sie ist zerstörerisch in ihrer Selbstbezogenheit und gleichermaßen charismatisch souverän in ihren Schritten durch die Welt.

Einmal sieht sie sich in Berlin ein postdramatisches Stück über das Scheitern von Paarbeziehungen an. Von einem Leiden ohne klaren Grund ist die Rede, vom Auftauchen nach einem langen Warten. Macht sie diese Kunst zu einem feinsinnigen Menschen, oder liefert die Bühnendramatik nur Baustoff für eine Psychologie, die einer Festung gleicht? Jedenfalls funktioniert Berlin als weltoffene, pluralistische Kontrastfolie hier lange nicht mehr.

In Daras Doppelleben hinterlassen sowohl ihr bürgerliches, liberales, apathisches Berliner Leben als auch ihre Willkür im Umgang mit den Menschen auf Lolland Fragezeichen. Dem Fortschritt, der in diesem Film die zweite Hauptrolle spielt, begegnet Dara als nicht minder konzeptionelles, ungreifbares Wesen: drastisch in ihrer Konsequenz, undefinierbar in der Herleitung.

Als würde sie sich selbst nicht mehr spüren können, liest sie beizeiten in Tagebüchern aus einem alten Gebäude, die vom Leben einer Bibliothekarin erzählen. Dara meint einmal, sie suche im Leben nach einer Dramatik, die trotz aller Mühen nicht zu finden sei. Und wird bald zu der Person, die in Luceks Leben die dramatischsten Wendungen einleitet. „Sei mir nicht böse“, meint sie nur, und geht unbeirrt nach vorne. Dem Fortschritt gehört ihre Liebe, der Fortschritt hat ihr das Herz gestohlen.

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