Klassengesellschaft und Bildung: Allein zu viert

Alleinerziehend, Akzent, Fernbeziehung, Hochhaus: Wie eine Frau in der Nähe von Köln gegen Vorurteile und das Bildungssystem kämpft.

Alleinerziehend mit Kind: kein leichter Weg. Bild: Patrick Pleul / dpa

KÖLN taz | 10 Minuten nach 6. Ella Reimers Wecker klingelt. Es ist ein warmer Spätsommertag, den Kindern wird heute eine leichte Jacke reichen. Duschen, Butterbrote schmieren. Kinder wecken, eins, zwei, drei. Auf dem Tisch stehen frische Tulpen.

Alina, Ella Reimers älteste Tochter, kommt morgenmuffelig aus ihrem Zimmer. Sie wird bald 14. Das Vogelgezwitscher am Morgen nervt sie. Sie greift in den Brotkorb. „Verkrüppelt“ fällt ihr zu der Form ihres Brötchens ein. Daniel ist elf, er schläft noch.

„Mama, Traubensaft“, ruft der fünfjährige Tobias, der im Pyjama auf dem Flur steht. Ella Reimer lacht und fordert das Zauberwort. Sie ist 39, groß, blond und schlank. Die zwei Grübchen in den blassen Wangen lassen sie zart und mädchenhaft aussehen.

Ella Reimer spricht mit leichtem russischem Akzent. Sie ist alleinerziehend und wohnt in einer Hochhaussiedlung in der Nähe von Köln. Sie steht am Fenster und beobachtet, wie ihre Tochter zur Schule schlendert. Seit einem Jahr hat Alina einen neuen Schulweg. Er führt nicht mehr ins Gymnasium, sondern in die Realschule. Und seit einem Jahr streitet sich Alina oft mit ihrer Mutter.

„Ich wollte auch nicht auf die Realschule“, sagt Alina. „Ich kannte nur ein Mädchen da.“ Ella Reimer und ihre Tochter haben das gleiche und doch unterschiedliche Probleme: Der einen geht es darum, dazuzugehören und Freunde zu haben, der anderen geht es um das Abitur und die berufliche Zukunft.

Alina hat inzwischen neue Freunde gefunden. Ihr gefällt es gut auf der Realschule. Ihre Mutter kann das nicht verstehen: „Es kommt nichts von ihr, kein Ehrgeiz. Wie kann ihr egal sein, was sie später mal machen wird?“

So still und in sich gekehrt wie Alina sei sie mit 14 auch gewesen, sagt Ella Reimer. Und gute Noten hatte sie auch nicht. „Aber Alina kann sich doch nicht mit mir vergleichen!“

Den Traum begraben

Als Ella Reimer 14 war, bekam der Eiserne Vorhang Risse. Ihre Familie in Kasachstan hatte deutsche Wurzeln und wollte die Sowjetunion auf schnellstem Wege verlassen. Sie war nie gut in der Schule. Chancen hatten ohnehin nur die Kinder, deren Eltern in der Partei waren. Ihre aber waren religiös.

Die Schulleiterin stand sonntags vor der Tür des Gemeindehauses und notierte die Namen derer, die herauskamen. Am nächsten Tag wurden sie dann in der Klasse vorgelesen. Als Ella Reimer von dem Plan ihrer Eltern erfuhr, nach Deutschland auszureisen, hörte sie auf zu lernen. Ihre Noten würden doch in Deutschland niemanden interessieren.

Sie gab ihren Traum auf, Hebamme zu werden. Wozu sich bemühen? Sie wusste nicht, was sie in Deutschland erwartete. Dann landete sie in Ingolstadt. Zu fünft in zwei Zimmern. „Es war wie im Ferienlager“, sagt sie. „Wir trafen uns im Hinterhof. Alle sprachen weiter russisch. Wir waren total abgeschottet.“

In der Schule lernte Ella Reimer schnell Deutsch, gab sich aber mit dem Hauptschulabschluss zufrieden. „Ich war sehr verträumt, eher eine Spätzünderin. Damals hat mir niemand gesagt, dass ich auch weiterlernen könnte.“ Nach einer Pause fügt sie hinzu: „14, das ist ein schwieriges Alter.“

Ihre Tochter Alina findet ihr Alter ganz okay, wäre aber lieber älter. „So 17 oder 18.“ Sie ist schüchtern. Ein Kind im 1,80 Meter großen Körper einer Frau. Die meisten Fragen beantwortet sie mit „Weiß nicht“.

Heute ist Alina in der siebten Klasse. Deutsch ist ihr Lieblingsfach. In Englisch und Mathe steht sie auf vier. Was sie mal werden will? Kosmetikerin vielleicht. Ella Reimer lächelt, streicht ihr liebevoll über den Kopf. Seit der Trennung von ihrem Mann versucht sie, Alina weniger unter Druck zu setzen. Mit den Klavierstunden durfte sie aufhören.

In Alinas Kinderzimmer liegt neben dem Schminkköfferchen ein Buch. „Zerbrich mich nicht“ heißt es. Ella Reimer findet gut, dass sie mal wieder liest. „Warum hast du dir genau dieses Buch ausgesucht? Worum geht es da?“, fragt sie ihre Tochter, obwohl sie schon weiß, wovon das Buch handelt. Alina antwortet mit einem Schulterzucken. Es ist ein autobiografischer Roman eines Mädchens, das nach der Scheidung seiner Eltern magersüchtig wird und auf Abwege gerät. Eine Mitschülerin habe es ihr empfohlen.

Wenn Ella Reimer über die Schullaufbahnen ihrer Kinder spricht, wird ihre Stimme etwas lauter. Immer wieder lacht sie, so als wolle sie aus ihren Worten alle Spuren von Frust und Verzweiflung wischen. Ihr jüngster Sohn Tobias braucht einen Kindergarten, wo er bis nachmittags betreut wird, damit sie arbeiten kann. Beantragt.

Der elfjährige Daniel ist Legastheniker. Zweimal die Woche fährt sie mit ihm zur Therapie. Die sollte das Sozialamt bezahlen, tut es aber nicht. Die Klage vor dem Verwaltungsgericht läuft. Weil ihre Rechtsschutzversicherung die Kosten für das Verfahren nicht trägt, sitzt Ella Reimer abends vor Jurabüchern und schreibt ihre Briefe selbst.

Dreimal die Woche geht sie arbeiten. Sie sortiert Briefe für ein privates Postunternehmen. Nicht arbeiten heißt: Arzttermine, Behördengänge und Haushalt. Abends schläft sie oft erschöpft vor dem Fernseher ein. „Mein eigenes Leben bleibt auf der Strecke“, sagt sie. „Ich sitze nur, wenn ich esse.“

Das Kind überschätzt?

Als Alina in der Grundschule war, sagte ihre Lehrerin, sie sehe sofort, wer ein Gymnasiumskind sei. Alina war eines, meinte die Lehrerin. Die erste Auszeichnung des Systems. Auf dem Gymnasium träumte sie davon, Latein zu studieren. Dann bekam sie eine neue Klassenlehrerin, die Noten wurden schlechter. Ella Reimer ging in die Sprechstunde der neuen Lehrerin. „Das war das erste Mal, dass ich Vorurteile so stark zu spüren bekam“, sagt sie.

„Welche Sprache sprechen Sie zu Hause?“, fragt die Lehrerin sie. „Sie wohnen hinten in den Hochhäusern. Hat Ihre Tochter überhaupt Platz und Ruhe, um zu lernen? Und wieso ist sie auf diese Schule gekommen, ist das noch das Einzugsgebiet? Was haben Sie sich dabei gedacht, das Kind auf ein Gymnasium zu schicken?“

Ella Reimer war sprachlos. Nach diesem Elternabend saß sie weinend im Auto. Hat die Lehrerin vielleicht recht? Hat sie ihr Kind überschätzt? „Was macht man dann?“, fragt sie sich noch heute. „Durch Beschwerden macht man sich nur noch unbeliebter.“ In den Augen der Lehrerin ist Ella Reimer überbesorgt und verblendet. Nicht jedes Kind müsse das Abitur machen, sagte die Lehrerin. Und: „Ich werde die Schulleitung der Realschule vorwarnen, was Sie für eine Mutter sind.“

Der Vater überfordert

Seit fünf Jahren führten Ella Reimer und ihr Mann Dominik da schon eine Fernbeziehung. Er will seinen echten Namen nicht in einer Zeitung lesen. „Dominik hat sich seine Jobs immer in anderen Städten gesucht, war überfordert vom Familienleben und kam nur am Wochenende“, sagt sie. Für die Kinder hatte er wenig übrig. Familie war für ihn „du und deine Kinder.“

Im Urlaub: „Ich bin doch nicht hier, um auf deine Kinder aufzupassen.“ Später dann: „Wenn du dich scheiden lässt, werdet ihr schon sehen, was ihr davon habt.“ Wenn Ella Reimer mit ihm über die Trennung reden will, setzt sich ihr Mann zu den Kindern auf das Sofa. So glaubt er, sie unter Kontrolle zu bekommen. Inzwischen haben sie sich getrennt.

Eines Abends meldet sie sich auf einer Dating-Plattform an. Ohne Foto. „Sie sollten mir nicht wegen meines Aussehens schreiben.“ Sie sucht einen Mann. Keinen Geizkragen, kein Sächsisch, keine Ähnlichkeit mit Boris Becker. Es soll ein Witz sein. Eigentlich sucht sie nach jemandem, der sie in keiner Weise an ihren Mann Dominik erinnert.

„In der realen Welt triffst du immer auf die gleichen Männer“, sagt sie. „Deswegen hab ich es im Internet versucht.“ Viele schreiben ihr. Einer davon ist Marcel. Marcel ist in Sachsen aufgewachsen und heißt Becker mit Nachnamen. Ella Reimer findet ihn witzig, sie telefonieren. Seit zwei Monaten treffen sie sich regelmäßig.

Wenn Marcel sie besuchen kommt, gehen sie spazieren. Immer den gleichen Weg. Am Fluss entlang, durch die Innenstadt, hinauf zur Burg. Sie gehen in eine kleine Kirche. Dunkel und kühl ist es dort. Die Fenster färben das Licht blau. Niemand ist da. Ella Reimer und Marcel sitzen in der zweiten Reihe. Sie flüstern, immer wieder kichert sie leise. „Das ist unser Ruheort“, sagt sie beim Hinausgehen. Eine halbe Stunde hin, eine halbe zurück. Ein paar Minuten Stille in der Kirche. Das ist die Zeit, die nur ihnen gehört. Dann tauchen die Hochhäuser wieder auf.

An einer Ampel hält sie ihn fest, damit er nicht bei Rot geht. Kein Auto in Sicht. Vielleicht will Ella Reimer diesen Augenblick auch hinauszögern. Ein letztes Mal frei durchatmen. Still stehen. Sie weiß, sie wird eine Woche auf dieses Gefühl warten müssen.

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