Kolumne Anderes Temperament: Kreuzberger Kakophonie

Als Berliner guckt man in der Regel nicht auf Strand, sondern irgendwelchen Leuten direkt ins Private. Auch nicht schlecht!

Das volle Leben: Gartenzwerge soll es sogar in Kreuzberg geben Bild: dpa

Hoch oben in einem Baum am Kreuzberger Landwehrkanal hängt ein Transparent. „Zimmer mit Strandblick“ steht drauf. Es muss sich um eine dieser Ferienwohnungen handeln, die von Touristen so gerne gemietet werden, weil sie das authentische Berlin-Feeling so mögen.

Das Transparent ist typisch Berlin: Authentizität behaupten, wo gar keine ist. „Dit is Berlin“ kann man zu allem sagen, was man hier so erlebt – egal, ob es sich so nicht genauso auch in Hamburg oder Barcelona zutragen könnte. Bewohner, Politiker und Touristen behaupten so hartnäckig ein Bild von der Stadt, bis man tatsächlich irgendwann glaubt, Berlin liege am Meer. Die versteppten Grasflächen entlang des grüngraubraunen Brackwassers werden einfach Strand genannt und schwups liegen massenweise Menschen zwischen Hundekot und Dönerresten auf Liegestühlen und in Schwimmflügeln vor muffig riechendem Gewässer. Schnell sieht es tatsächlich so aus wie an einem überfüllten Mittelmeerstrand, wo es ja oft auch nicht viel hübscher ist oder besser riecht.

Und hat nicht das dort so beliebte Zimmer mit Meerblick auch mehr mit einem Bild als mit Realität zu tun? Als Urlauber im Süden hält man sich doch höchst selten tagsüber in einem Zimmer auf. Und selbst wenn, schließt man die Fensterläden, damit die Hitze nicht in die Zimmer dringt. Man blickt also eigentlich höchstens bei der Ankunft und ganz früh morgens einmal kurz aus diesem Fenster. Das Zimmer mit Meerblick ist weniger Erfahrungsraum als Bilderrahmen. Festgehalten werden soll ein Bild vom Meer, das man vorher schon hatte und auch weiter so haben will – wie auch immer die Realität an den Ufern dieses Meeres aussieht.

Als Berliner guckt man, wenn man nicht gerade am Paul-Lincke-Ufer wohnt, in der Regel nicht auf Strand, sondern irgendwelchen Leuten direkt ins Private. Was die Nachbarn im eigenen Haus treiben, hört man nur, wenn sie laut sind. Von den Nachbarn gegenüber aber weiß man, dass sie nackt spülen, in Herzchen-Bettwäsche schlafen und alleine Eis essen.

Bei mir um die Ecke und nur wenige Meter von der Dealer-Trasse im Görlitzer Park entfernt wohnen zwei ältere Frauen in einem Fenster. Ist das Fenster geschlossen, sieht man darin Weihnachtsbasteleien oder Deutschlandfähnchen. Seit ein paar Wochen sind zwei große Fotos von Udo Jürgens zu bewundern. Lässt das Wetter es zu, ist das Fenster sperrangelweit geöffnet und das Wohnzimmer der Erdgeschosswohnung komplett einsehbar.

Phänotypisch beurteilt, erfüllen die WG-Frauen Blockwart-Standard: Sie sind kompakt gebaut, halten die Haare streng nach hinten gekämmt, gucken meist grimmig und haben einen scharfen Ton in ihrem Berliner Dialekt. Wenn sie nicht auf der Fensterbank lehnen, mahnt das leere Kissen, dass sie jederzeit wiederkommen könnten. Wenn man sie reden hört, dann selten über andere Leute. Meist diskutieren sie über das Paket mit Werbeprospekten von Kaisers, Lidl und Real. Am Ende der Diskussion zieht dann die eine mit dem Fahrrad los und kauft die besprochenen Angebote ein. Obwohl sie im Erdgeschoss wohnen, werden die Einkäufe durch das Fenster in die Stube gereicht. Selbstverständlich werden durch das Fenster auch Pakete für die Nachbarn angenommen. Hat man ein Paket bei ihnen abzuholen, wird dieses durch das Fenster wieder herausgegeben.

Am Neujahrsmorgen haben die beiden Fensterfrauen wie jedes Jahr die Böllerreste vor ihrem Haus zusammengefegt. Im Hintergrund war „und immer immer wieder geht die Sonne auf“ zu hören. Aus einem anderen Fenster in der Straße hielt jemand Eminem dagegen, was meinen betrunkenen griechischen Nachbarn, der eigentlich fast taub ist, dazu brachte, eines seiner griechischen Klagelieder zu singen. Die Kakophonie der Kreuzberger Silvesternacht ist nichts gegen die Kakophonie dieser kleinen Straße, in der es nur Zimmer mit Aussicht gibt.

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Seit 2012 Redakteurin | taz am Wochenende. Seit 2008 bei der taz als Meinungs, - Kultur-, Schwerpunkt- und Online-Redakteurin, Veranstaltungskuratorin, Kolumnistin, WM-Korrespondentin, Messenreporterin, Rezensentin und Autorin. Ansonsten ist ihr Typ vor allem als Moderatorin von Literatur-, Gesellschafts- und Politikpodien gefragt. Manche meinen, sie kann einfach moderieren. Sie meint: "Meinungen hab ich selbst genug." Sie hat Religions- und Kulturwissenschaften sowie Südosteuropäische Geschichte zu Ende studiert, ist Herausgeberin der „Jungle World“, war Redakteurin der „Sport-BZ“, Mitgründerin der Hate Poetry und Mitinitiatorin von #FreeDeniz. Sie hat diverse Petitionen unterschrieben, aber noch nie eine Lebensversicherung.

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