Kolumne Bestellen und Versenden: Alles Pseudo oder was?

Die grassierende Kritik des „Spektakels“ endet schnell bei spektakulärer Pseudokritik. Ein Plädoyer für eine kritische Selbstkritik.

Einer ehrlichen Selbstkritik voraus geht der Blick in den Spiegel. Bild: dapd

Wenn es empfindlichen Menschen zu bunt wird, erinnern sie sich gern an den Situationismus und klagen über das Spektakel überall. So geschehen in dem gerade erschienenen Buch „Kapitalismus als Spektakel“ von Markus Metz und Georg Seeßlen und in einem Welt-Interview mit dem Theatermacher und Musiker Schorsch Kamerun, in dem dieser sich über „brave Schauspektakel“ und „Kreuzfahrtwerbespektakel“ im Hamburger Hafen beschwerte.

Selbst die Solidaritätsbekundungen im Zuge des Pussy-Riot-Prozesses dienten als Hassmaterial. „Mich nervt dieser pseudo-politisierte Pop-Gestus, der nichts als sich selber will, allein temporär aufschimmert, um dann zu sich selbst zu kommen: als kleines pop-geschichtliches Spektakel am Rande“, funkte der Autor Aljoscha Weskott über Facebook. Zugegeben, nie war es so einfach, kritisch und politisch zu sein wie mit Pussy Riot. Aber ist deswegen alles gleich falscher Schein, ergo „pseudo“?

Der Spektakelbegriff ist diffus und damit unendlich anschlussfähig. Seine Vagheit macht ihn brauchbar, aber nicht unbedingt erkenntnisfördernd. Die Philosophin Juliane Rebentisch plädierte denn auch schon vor fünf Jahren dafür, „die diffuse Rede von der Herrschaft des Spektakels (...) auf unbestimmte Zeit zu suspendieren“.

Geschehen ist seither das Gegenteil: Spektakel dient mehr denn je als Diskurs-Passepartout. Die Herausgeberinnen der aktuellen L’Homme – Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft zum Spezialthema „Spektakel“ etwa diagnostizieren die „Ausbildung einer mit Herrschaftsanspruch verbundenen visuellen und medialen Kultur, die die Möglichkeiten der Wahrnehmung bestimmt“.

Jede Menge ideologischer Ballast

Die Spektakelrede tritt oft mit dem Entlarvungsgestus der Ideologiekritik an, schleppt aber selbst jede Menge ideologischen Ballast mit. Fragwürdige Stellen finden sich schon im Urtext von 1967 selbst, in Guy Debords „Die Gesellschaft des Spektakels“. Das Spektakel – verstanden als „ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen“ – sei eine „Totalität“, es sei „überall“ und die ganze Gesellschaft „zutiefst spekularistisch“.

Während sich mit dieser Totalisierung zu Zwecken der Polemik noch leben ließe, erzeugt Debords Unmittelbarkeitsrhetorik Beklemmungen. Schon im ersten Paragrafen heißt es: „Alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen.“ In einem emanzipatorisch verbrämten Jargon der Eigentlichkeit beklagt Debord den „Verlust der Einheit der Welt“, an deren Stelle eine „abgesonderte Pseudo-Welt“ getreten sei.

„Alles Pseudo“ ist natürlich der Generalverdacht aller Authentizitätsfans, die sich nach einer konfliktfreien Idylle sehnen, in der jeder echt und er selbst sein kann – und muss. Popkultur war nicht zuletzt gegen die repressiven Seiten solcher Szenarien gerichtet – umso erstaunlicher ist es, dass Freunde derselben wie Georg Seeßlen und Markus Metz ohne Selbstzweifel die „Spektakelindustrie“ anprangern.

Diese sei nämlich, so schreiben sie in „Kapitalismus als Spektakel“, für eine „gewaltige Vernebelung“ und die „Enteignung der Menschlichkeit“ verantwortlich. Als einsame Aufklärer im ideologischen Nebel sprechen die beiden im Namen der Leute, im Grunde ist jedoch auch ihre Spektakelkritik ohne Hass auf die Massen und Ekel vor dem angeblich passiv konsumierenden Kleinbürger nicht zu haben.

Manipulierte Manöver

Schon Debords Pamphlet degradierte den Menschen zum „Zuschauer“. Logisch, dass dann selbst Mobilisierung Ausdruck von Passivität ist – und die Pussy-Riot-Soli-Adressen von Madonna genauso manipulative Manöver für die Angepassten wie ein schicker Dampfer im Hamburger Hafen.

Das Spektakel ist für Debord „Negation des Lebens“, sein Anderes wäre also das Leben selbst. Diese vitalistische Anrufung erscheint heute, in Zeiten des biopolitischen Zugriffs auf das „bloße Leben“, mehr als unpassend. In einem Beitrag zum aktuellen Reader „Alles falsch. Auf verlorenem Posten gegen die Kulturindustrie“ kritisiert die Kunsttheoretikerin Isabelle Klasen „Kulturwissenschaftler und andere Experten, die das Spektakel für sich entdeckt haben und ihm dabei aufsitzen“.

Tatsächlich sollten sich all die Ad-hoc-Spektakelkritiker mit den Widersprüchen und Unannehmlichkeiten ihres Diskurses auseinandersetzen. Sonst werden sie selbst so, wie nicht sein wollen: Agenten einer spektakulären Pseudokritik, die nur sich selbst genießen will. Oder noch schlimmer: Kleinbürger zweiter Ordnung, die sich von lärmenden „Events“ belästigt fühlen.

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Politikwissenschaftler, seit 2022 Referatsleiter im Leitungsstab der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Autor für verschiedene Publikationen. Er schrieb von 2009 bis 2016 die monatliche taz-Kolumne "Bestellen und Versenden", seither freier taz-Autor. Themen: Popmusik, Theorie, Ideologiekritik.

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