Kolumne Blicke: So war das hier im Block

Keiner hat mehr Bock auf Kiffen, Saufen, Feiern. Alle wollen nur noch Literaturdebatten führen. Da kann man sich schon mal zwei Finger an den Kopf halten.

Was für ein Gestreite um die deutsche Weißbrot-Literatur! Bild: dpa

Die aktuelle Debatte über die Relevanz der deutschen Gegenwartsliteratur und ihre Dings, ihre soziale Gleichschaltung, finde ich toll, aber mein erstes Buch war eine Schallplatte.

Ein unbekannter Onkel las mir Abend für Abend den Rübezahl vor, als Auftakt lief „In der Halle des Bergkönigs“ von Edvard Grieg – das einzige klassische Musikstück, das ich bis zu meinem 16. Lebensjahr gehört habe. Falls meine Mutter mir Bücher vorgelesen hat, dann habe ich das vergessen.

Ich weiß nur noch, dass meine älteren Brüder, mit denen ich mir ein Zimmer teilte, genervt waren von dem ewigen Rübezahl, und dass ich deswegen beschloss oder genötigt wurde, lesen zu lernen.

Damit ich was zu lesen bekam, ging meine Mutter mit mir in die Stadtteilbibliothek Milbertshofen. Zu Hause hatten wir kaum Bücher, was vielleicht nicht zuletzt daran lag, dass wir kein Bücherregal besaßen, was möglicherweise damit zusammenhing, dass wir zu fünft auf 80 Quadratmetern wohnten – was mir als Kind riesig vorkam, nicht viel weniger riesig als die Torquato-Tasso-Grundschule, in die ich dann ging und von meiner Lehrerin mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen wurde, weil ich anstatt lesen zu lernen, was ich ja schon konnte, lieber mit meinem Freund schwätzte.

In die Bücherei wurde ich gebracht und dann in Ruhe gelassen. Ich las alles von Richard Scarry, alles von Maurice Sendak, alles von Hal Foster und das Buch „Der Krieg am Ende der Welt“ von Mario Vargas Llosa.

Ich erinnere mich, dass ich es in einem Regal fand, in dem ich früher nicht gesucht hatte. In dem Buch gibt es auch Sexszenen, und ich weiß, dass ich sie als solche wahrnahm und dass sie mich interessierten. Das muss nach 1981 gewesen sein, dem Erscheinungsjahr auf Deutsch, und ich war also mindestens 13 Jahre. Aber auch nicht viel älter, glaube ich.

Dass das Lesen mich zu einem versponnenen Bücherwurm gemacht hätte, kann ich nicht sagen, ich hatte viele Freunde und war gern draußen. Nur manchmal hatte ich das Gefühl, bestimmte Codes nicht gelernt zu haben, was daran liegen könnte, dass ich nicht im Kindergarten war, sondern mit den türkischen Kindern, für die es keine Kindergartenplätze gab, auf den Spielplätzen im Luitpoldpark abhing.

Bei der Eignungsprüfung fürs Gymnasium wäre ich beinahe in meinem Lieblingsfach durchgefallen, weil ich die vorgelesene Geschichte, anstatt sie, wie es die Aufgabe gewesen wäre, einfach nachzuerzählen, mit einem neuen Ende versah. Ich erinnere mich, dass ich die Lehrerin tief verachtete, obwohl es nicht mehr die alte Nazitante war, die kleine Kinder, die ihr anvertraut waren, ins Gesicht schlug.

Was Literatur eigentlich ist, wer zum Beispiel Vargas Llosa ist, lernte ich dann erst in der 11. Klasse. Die Lehrerin, die es mir beibrachte, arbeitete neben dem Gymnasium auch an der Theaterakademie.

Als sie so siebzig war, hat sie alle ihre Bücher der Akademie geschenkt. Und da hat dann ein Kollege gesagt: Gerda – du ohne deine Bücher, das kann ich mir gar nicht vorstellen! Da hat sie gesagt: Ich ziehe in eine Gartenwohnung, ich habe keinen Platz. Und dann hat sie sich umgebracht.

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Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.

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