Kolumne Blicke: Karfreitag revisited

Manchmal wird einem plötzlich klar, dass man ganz gut mal mit sich ist, dass man sich wirklich erholt, ohne ins Kloster zu gehen oder eine Panikreise in die Provinz organisiert zu haben.

Als er die Schuhe anzog, riss ein Schnürsenkel. Er aß eine Scheibe Brot und eine halbe Zwiebel und trank den Rest Büchsenmilch, mit Wasser gemischt. Er hatte noch 8 Euro 40.

Wenn man die Feiertage allein verbringt, vergehen die Stunden seltsam. Manchmal, wenn man etwas aufarbeitet, was lange liegen geblieben ist, sei es ein Text, die Steuererklärung oder ein Abschiedsbrief, rast die Zeit, und man verpasst das Sonntagsspiel, auf das man sich doch gefreut hatte. Dann wieder sitzt man einfach da, spült oder staubt ab und wundert sich, dass es hartnäckig nachmittags halb drei ist. Da kann man nun nicht zu Bett gehen. Also zieht man doch mal Schuhe an, irgendwas fehlt immer, und der Spätkauf ist dein Freund – wozu lebt man in der großen Stadt?

Am Nordfriedhof hockten die Raben in den Bäumen. Von den Bauzäunen rann der Schnee und löste die alten Faschingsplakate ab. Die Kneipen hatten dicht. In der Imbissbude trank er ein schnelles Bier. Es schmeckte nach Plastik. Die Leute waren stumm und starrten ihn an. Auf der Georgenstraße lief er fast einem BMW vor die Haube. Der Fahrer drohte ihm mit der Faust. Im Kino zeigten sie Filme über die Angst. Die Zeitungskästen waren alle leer.

Eigentlich wäre diese ruhigen Tage ideal, um sich mal zu bewegen. Da gibt es aber nun ein Problem, wenn man auf Frühsport nicht steht: Nachmittags ist an Feiertagen die Laufstrecke mit Spaziergängern voll. Und man weiß doch: So sehr gut sieht das nicht mehr aus bei einem jenseits der vierzig, das rote Gesicht, der pfeifende Atem, der Sabber, nein, das möchte man niemandem zumuten: vor allem nicht sich selbst. Also geht man, ziemlich schnell, auch um sich ein wenig abzugrenzen von den schlendernden Paaren und Kleingruppen, oft Großeltern aus Westdeutschland zu Besuch bei der Berliner Neukleinfamilie.

Man vermerkt die anderen einzelnen Herren und Damen, und irgendwie bringt einen das dann gut drauf, nicht nur der frischen Luft wegen, deswegen auch, man ist plötzlich froh, dass das Wetter nicht wie im Hochsommer ist, obwohl einem der Meteorologieterror der Medien ja eben das als größtmögliche Katastrophe versucht hat einzubläuen; aber so frisch ausschreitend wird einem plötzlich klar, dass man ganz gut mal mit sich ist, dass man sich wirklich erholt, ohne ins Kloster zu gehen oder eine Panikreise in die Provinz organisiert zu haben.

Zu Hause fand er noch eine Dose Tomatensuppe, löffelte sie mit dem Brot, las einen Spillane, wichste sich einen ab und beschloss, morgen früh aufzustehen, um doch den Toaster zu versetzen. Und er dachte, dass er den ganzen Tag mit zwei Worten ausgekommen war: ein Bier. Christus am Kreuz hatte mehr gebraucht.

Was hier kursiv gesetzt ist, ist das Gedicht „Karfreitag“ von Jörg Fauser (1944–1987) – eine leicht aktualisierte und ganz prosaisierte Fassung. Wem’s nicht zusagt: Fauser – „Keine Stipendien, keine Preise, keine Gelder der öffentlichen Hand, keine Jurys, keine Gremien, kein Mitglied eines Berufsverbands, keine Akademie, keine Clique; verheiratet, aber sonst unabhängig“ (Selbsteinschätzung) – wollte auf jeden Fall von den Sachen reden, von denen er etwas verstand.

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Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.

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