Kolumne Blicke: Wenn der Vater mit den Söhnen

Was soll man tun, wenn ein Abschied bevorsteht? Fußball schauen oder gar spielen? Die Wohnung aufräumen? Etwas neues starten auf jeden Fall.

Vater. Allein. Bild: TimToppik/photocase.com

Nach dem Theater war der große Sohn mit den Freunden gegangen. Bei ihnen würde er auch übernachten. Der kleine Sohn und der Vater fuhren mit der U-Bahn nach Hause, und der Erwachsene tat, was ihm nur einfiel, den wieder mal Zurückgelassenen zu trösten.

Seit einiger Zeit schon hatten sie darüber gesprochen, dass etwas Neues bevorstünde: Der Bruder würde nun unweigerlich zum Pubertisten werden, zu einem zu Hause gern gesehenen Gast, dessen eigentliches Leben aber sich draußen, in der großen Stadt abspielte.

Der kleine Bruder hatte das tapfer verstanden. Er verstand auch, dass er sich peu à peu mehr seinen wenig geliebten Gleichaltrigen würde zuwenden müssen. Dass er nun Freunde brauchte, weil er in der Familie – die so ganz intakt ohnehin nicht mehr war – nun ganz allein zurückblieb, ein Kind zwischen zwei Erwachsenen.

Wo waren die immer?

Der Vater war auch ein jüngstes Geschwister gewesen und erinnerte sich mit Schrecken an die plötzliche Stille in der elterlichen Wohnung, als beide Brüder zu Hause nur noch kurz rasteten. Wo waren die immer, verdammt?

Hand in Hand gingen Vater und Sohn von der U-Bahn nach Hause. Auf allen Fernsehern lief ein Halbfinale, es regnete seit Tagen. Die Wende war nicht nur einschneidend für das Söhnchen. Auch der Vater würde nun zurückmüssen. Er mit den zwei Kindern – sie waren eine autonome Einheit gewesen: Nichts dagegen, jemanden zu treffen, aber nach übermäßig intensiven Betreuungsfreundschaften war ihm der Sinn nicht gestanden. Nun hieß es Netzwerken. Schon das Wort klang nach Arbeit.

Es war schon recht spät, als sie ankamen. Der Vater ließ den Sohn dennoch Fifa 12 spielen. Er selbst hörte den TV-Kommentar der sogenannten realen Partie, während er die Wohnung in Ordnung brachte. Medienkonsum und Arbeit waren schon immer Mittel gewesen, um sich von den Verlusten im wirklichen Leben abzulenken. Trost boten sie nie: Am nächsten Morgen war halt die Wohnung ein wenig sauber, man hatte im Computerspiel die Champions League gewonnen und irgendwer konnte Europameister werden; aber der Abschied war immer noch da, war immer noch genauso schlimm. Und man konnte nichts dagegen tun, außer halt etwas anderes zu tun.

Etwas Neues beginnen. Oder in Trauer und Melancholie versinken, sich betrinken – ein Kind konnte nicht mal das. Wie lange wollte man diesmal besinnungslos an dem Bruch stehen bleiben, der sich vor einem aufgetan hatte, und in den Abgrund starren? Wie lang brauchte man diesmal zum Richtungswechsel, zum Losreißen vom Blick auf das, was man schlicht hinnehmen musste? Bei Abschieden fiel fast immer das kindliche Wort „ungerecht“.

Der Vater dachte, als der Sohn dann schlief, dass man damit, mit diesem vor sich hingemurmelten Wort, einen ganzen Lebensabschnitt zubringen konnte. In Deutschland gab es Bevölkerungsgruppen, die seit zwanzig Jahren nichts anderes taten. Wie hatte es gestern in der Volksbühne geheißen: Murmel Murmel Murmel Murmel Murmel Murmel Murmel Murmel Murmel Murmel Murmel Murmel …

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.