Kolumne Blind mit Kind: „Guck mal“ bedeutet „Fass mal an“

Kinder haben keine Ahnung von Schwerbehinderung und stereotypen Vorstellungen. Für sie ist das Leben mit blinden Menschen normal.

Zwei Kinder mit einem Kasten voller Buntstifte

Wenn sie ein Bild malt, gibt es eine Beschreibung gratis dazu Foto: dpa

„Was ist das?“, fragt mich die Spiel­kameradin meiner Tochter und zeigt vermutlich unmissverständlich mit dem Finger auf das Objekt ihrer Begierde. „Was denn?“, hake ich nach. Doch bevor ich zu einer Erklärung für meine Blindheit ansetzen kann, kommt mir die kleine „Blindenexpertin“ zu Hilfe:

„Ach, du musst das richtig zeigen – Mama kann das doch nicht sehen!“, sagt meine Tochter und legt meine Hand auf das Glas in der Tischmitte. „Honig“, erkläre ich, und damit ist die Sache für die beiden Mädels auch schon wieder erledigt.

Für mich nicht ganz – ich muss ein bisschen Honig von der Tischplatte wischen und bin mal wieder einen Moment lang beeindruckt davon, dass sich bewahrheitet hat, was wir uns immer gedacht und erhofft hatten: Sie wächst da rein – für sie ist es normal! Es – das ist die Blindheit oder der Umgang mit ihr, von dem doch so viel Aufhebens gemacht wird.

Kleinkinder wissen davon nichts. Sie haben keine Ahnung von Schwerbehinderungen, von praktischen Einschränkungen und stereo­typen Vorstellungen.

Die Intuition meiner Tochter

Sie merken natürlich, dass sie nicht direkt angeguckt werden, dass sie, mit dem Finger auf etwas deutend, auf ihr fragendes „Da?“ keine adäquate Antwort bekommen und dass auch das Bild im Bilderbuch nicht von jedem automatisch beschrieben wird – nehmen es als gegeben hin und versuchen etwas anderes.

Wenn das Buch nicht geht, geht vielleicht das mit der Filzraupe, die umgehend erklärt wird, wenn man den Finger der Eltern darauf legt … und es lohnt sich, schnell Ortsangaben äußern zu können, um die runtergefallenen Gegenstände nicht selbst aufheben zu müssen. Intuitiv wusste meine Tochter schon mit zwei Jahren, dass „Guck mal“ für Mama und Papa eigentlich „Fass mal an“ bedeutet.

Wenn wir das einmal nicht tun, fühlt sie sich beschummelt: „Guck mal, meine neuen Schuhe!“ Sie stellt ihr Füßchen gut hörbar vor mir ab. „Schön!“, sage ich betont begeistert. Immerhin habe ich die Dinger gekauft und heute bereits das fünfte Mal bewundert. „Du guckst gar nicht!“, schimpft sie und hebt ihr Bein, um mir den dreckigen Schuh in die Hand zu ­schieben …

„Hör doch, wie ich tanze“

Richtig schwierig wird es, wenn sie etwas Tolles gemacht hat, was die Eltern unbedingt zu bewundern haben. Dann vergisst sie doch, was eigentlich nicht geht, und wir müssen auf jedes Bild fassen, das sie gemalt hat. Eine Audio­de­skrip­tion gibt’s wenigstens von ihr höchstpersönlich gratis, denn sie erklärt im Detail, warum das Auto rosa ist und wo der Vogel sitzt.

Davonkommen lässt sie uns nie mit unseren dummen Ausreden. Leider auch dann nicht, wenn es gerade mal sehr praktisch wäre. Wie während der Ballettstunde. Da müsste man nicht herumsitzen, sondern könnte in der Zeit einkaufen gehen … „Zugucken? Ich kann doch nicht sehen, was du da machst!“

„Dann hör doch, wie ich tanze!“

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