Kolumne Boston Buddies #3: Spirituelles Schuheputzen

Die Macht der Liebe: Wer sich bei Jeron die Schuhe putzen lässt, bekommt dazu Fragen, die morgens um halb acht in Downtwon Boston absurd sind.

Rushhour am frühen Morgen. Reindrängen in die U-Bahn, raus ins nächste Cafe, den ersten Kaffee holen, unterm Arm noch das Gratis-Blatt für die letzten Meter ins Büro. Der täglich gleiche Drill für Pendler. Doch einer sitzt still da in diesem steten Hektik-Rhythmus. Auf einer umgedrehten Kiste an einer Ecke auf einer Brücke in Downtown. Von links strömen die Massen aus der U-Bahn, unter ihm quälen sich Autos hupend eine vierspurige Stadtautobahn entlang.

Jeron stört das nicht. Weder der Lärm noch die Ignoranten, die ihn – die Kopfhörer im Ohr, den Blick schon auf die ersten Mails des Tages geheftet – fast streifen. Denn immer mal wieder taucht jemand auf aus seiner morgendlichen Routine und hält inne bei Jeron.

Jeron ist Schuhputzer. Seit mehr als 30 Jahren. Er saß auch schon auf Straßen in New York, doch Boston ist seine Heimat, dort ist seine Familie. Also sitzt er jetzt Ecke Massachusetts Avenue und Bolyston. Auf seiner klapprigen Kiste, vor sich das kleine abgewetzte Holzpodest mit Fach für die Lumpen. Neben ihm, akkurat aufgereiht, Schuhcreme, Wachs und diverse Bürsten; aus Draht, aus feinem Haar – und Zahnbürsten.

Doch reichen die, die sich diesen Luxus gönnen, aus, ein Leben davon zu bestreiten? Das wenige Leder, aus dem meine Sommerschuhe sind, geben nichts her für die ganzen Bürsten und Produkte. Dennoch bleibe ich an einem Morgen stehen, unterbreche meine Zielstrebigkeit. Ab fünf Dollar aufwärts kann man seinen Service in Anspruch nehmen, wer will, bekommt gratis ein Gespräch über Spiritualität dazu. Ich verzichte aufs Schuhe putzen und nehme nur das Gespräch.

Schuheputzen ist was Spirituelles

Das wiederum mehr ein Monolog ist. Jeron, der Prediger. Schuhe putzen ist für ihn kein einfacher Broterwerb, es ist etwas Spirituelles. Wer zu ihm kommt, ist sich etwas wert, achtet auf sich. Und wer ist sich etwas wert? Jemand, der sich selbst liebt. Und nur wer sich selbst liebt, wird geliebt. „Liebst du dich?“ Ein Frage, die morgens um halb acht oberhalb einer vierspurigen Schnellstrasse absurd daherkommt.

Ich wollte doch eigentlich nur erfahren, wie das Geschäft so läuft. Fünf Dollar für ein paar Schuhe polieren, das reicht nicht mal bis zum Mittagessen. Aber Jeron wischt derart profane Dinge schnell beiseite, nickt nur, ja ja, das reicht. Sieben Kinder habe er schließlich. Und schon ist er wieder bei der Liebe und von da ganz schnell bei der Welt, die nur Gut und Böse kennt. Und die Guten, die sterben allzu oft zu früh. Jesus, Ghandi, King, die Kennedys. Hoffentlich Obama nicht (Romney finden nur Dummköpfe gut)! Halleluja!

Ich bin nicht mehr überrascht, dass Jeron sich auch noch Schriftsteller, Sänger und Tänzer nennt. Wenn er seine Utensilien um 11 Uhr zusammenpackt, beginnt diese zweite Karriere des Afro-Amerikaners. Ich wundere mich nur, dass er nicht auch wirklich Prediger ist. Aber religiös sei er nicht, sagt Jeron. Nur spirituell.

Und hebt an, mir zu erklären, warum er das eine preist und das andere ablehnt. Doch weltliche Dinge zwingen Jeron, auf die Massachusetts Avenue zurückzukehren. Es beginnt zu regnen. Jeron packt sein Utensilien zusammen, macht sich auf den Weg. „Wir werden uns wiedersehen“, sagt er zum Abschied. Klar. Schon morgen, wenn ich, Kopfhörer im Ohr, wieder an ihm vorbeihetzen werde. Aber irgendwann bleibe ich bestimmt auch noch einmal stehen.

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Jahrgang 1980, studierte Journalistik und Amerikanistik an der Universität Leipzig und der Ohio University. Seit 2010 bei der taz, zunächst Chefin vom Dienst, seit Juli 2014 Leiterin von taz.de. Schreibt schwerpunktmäßig Geschichten aus den USA.

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