Kolumne Darum: Die Höllen dieser Erde

Die „M&M-World“ in London hat das Zeug dazu, der infernalischste Ort der Welt zu sein. Doch die Konkurrenz ist groß.

Auch nicht besser: die „M&M-World“ in New York. Bild: imago / wombati

Als ehemaliger Linksradikaler glaubt man ja, jeden Abgrund an Gemeinheit und Niedertracht schon gesehen zu haben. Als Agnostiker, dem der Glaube an höhere Wesen, himmlische Paradiese und harfespielende Englein fehlt, auch. Und doch sind es erst Kinder, die uns die Pfade in die wahre Hölle weisen.

Neulich in London: Einige Tipps von Freundinnen hat die Tochter dann doch mit auf die Reise genommen, und sie weiß sie wohl zu dosieren. Es mag am zu dicht geplanten Programm der viertägigen Städtereise liegen, an der für London ungewöhnlichen Hitze dieses Tages oder schlicht daran, dass unsere Kinder so viel reden, dass wir manchmal mit dem Denken gar nicht mehr nachkommen. Wie auch immer: Ich habe nicht Nein gesagt, als die Tochter sagte, wir müssten unbedingt die „M&M World“ aufsuchen.

So tapsten wir ihr hinterher, ohnehin schon erschöpft von den Menschenmassen zwischen Leicester Square und Piccadilly Circus an einem warmen Feiertagswochenende. Hätte ich auch nur eine Sekunde nachgedacht, wäre mir klargewesen, wie schlau meine Frau doch ist, wie mannigfach gebildet und speziell in der Dichtung Dantes versiert, als sie drei Sekunden nach dem Eintritt ins „M&M-World“-Höllentor sagte: „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“ (Die Göttliche Komödie, Inferno III, 9) bzw. „Das ist nichts für mich, ich warte draußen.“

1.000 Leute drängten indes dorthin, wo schon Tausende sich tummelten. Mehrere Gedanken schossen mir gleichzeitig durch den Kopf: „Ich kann das Kind hier nicht allein lassen“, „das wird jetzt brutal“, „wenn ich das überlebe, bin ich ein anderer Mensch“ usw. Aber mehr als einen Gedanken auf einmal kann ich nicht verarbreiten.

Zur Belohnung Schlange stehen

Ich bin nur ein dummes Schaf – und trottete hinterher. Auf vier Etagen werden dort Produkte von „M&M“ angeboten, vom Knabberzeug in allen Varianten, Farben und Formen bis hin zu Merchandise-Unterhosen, -Schlafanzügen, -Stofftieren und allem, was groß genug ist, um ein „M&M“-Logo draufzudrucken.

Dazwischen: Völlig überzuckerte und freidrehende Kinder, genervte Erwachsene, ein Geräuschpegel wie auf der Fanmeile bei einem Sieg der deutschen Nationalmannschaft plus Kirmestechno plus Werbedurchsagen und ein durchdringender Geruch nach Melasse, zu lang gerösteten Nüssen, Schweiß und vollen Windeln. So riecht, klingt und stellt sie sich dar – die Hölle auf Erden. Und der Kapitalismus hat sie sich dienstbar gemacht; als Belohnung für Leid und Qualen darf man sich an den Kassen auch noch in nicht endenwollende Schlangen einreihen.

Noch immer streiten wir zuhause, ob die „M&M World“ die Hölle der Höllen ist oder ob sie im Ranking der Höllen, in die uns unsere Kinder geführt haben, zwar einen guten, aber eben keinen Spitzenplatz einnimmt. Kann sie anstinken gegen diesen einen Indoor-Spielplatz, in dem alle Kinder permanent schrien? Wird sie das Eltern-Kind-Weihnachtsbasteln in der Kita auf die Plätze verweisen? Muss sie sich hinter dem „Spaßbad des Grauens“ einreihen?

Wir wissen es nicht. Was wir wissen ist: Unsere Kinder sind noch lange nicht erwachsen. Da geht noch mehr.

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Jahrgang 1969, Leitender Redakteur des Amnesty Journals. War zwischen 2010 und 2020 Chef vom Dienst bei taz.de. Kartoffeldruck, Print und Online seit 1997.

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