Kolumne Darum: Krümel pflastern ihren Weg

Drei Schritte in die Wohnung, drei Dinge fallen zu Boden: Wenn es ums Loslassen geht, können Eltern von Kindern viel lernen.

Auch die Krümel sagen: „Ich mach das alleine“. Bild: photocase / super-jenny

Loszulassen, so lehrt es uns der liberale Schweizer Erziehungspapst Remo Largo, sei für Eltern eine Kunst. Denn das habe „eine stark emotionale Seite“, schreibt er in seinem Buch „Jugendjahre“. Wer Kinder hat, weiß, was gemeint ist: Jahrelang rackert man sich ab, damit es Kindern tags und nachts nicht an den Dingen fehlt, die sie selbst nicht beschaffen können.

Und plötzlich heißt es: „Ich mach das alleine“, „dafür brauch ich dich nicht“, „das geht dich nichts an“. Das geht lange vor der Pubertät los, und wenn die Hormone dann alles verändern, kommen solche Sätze im Tempo eines Ferraris auf der Rennstrecke und mit der Häufigkeit von Blütenpollen im Frühling.

Loslassen also. Von jetzt auf gleich. Das fällt schwer, darauf ist man kaum vorbereitet. Dabei ist es ganz einfach. Wenn wir unsere Kinder nur gut genug beobachten, können wir genau das von ihnen lernen – lange vor der Pubertät und während der Pubertät erst recht.

Die Tochter kommt aus der Schule heim. Sie betritt die Wohnung mit exakt drei Schritten – und lässt alles fallen: Schulranzen, eine große Backformtüte (irgendeinen Anlass, Kuchen mit in die Schule zu nehmen, gibt es ja immer), Unterlagen, die ihr in der Schule mitgegeben wurden. Der Schulranzen knallt nach einem Schritt auf den Boden, die Unterlagen fliegen nach zwei Schritten quer durchs Wohnzimmer, die Backformtüte schließlich ergießt sich nach drei Schritten und einem Sturz aus einem Meter Höhe kurzerhand auf dem Teppich. Nun liegt sie dort, umgekippt, Krümel, Bleche und Messer bilden ein Muster, das uns unangenehm auffällt, dem Kind aber nicht.

Es hat losgelassen und ist weitergegangen. So einfach geht das. Der Sohn, drei Jahre jünger, kann das auch. Getragene Kleidung, Spiel- und Schulsachen, Kissen, Decken und Kuscheltiere, Bücher und CDs, vor allem Verpackungen von Süßigkeiten – alles kann los- und fallengelassen werden, an jedem Ort, zu jeder Zeit, in jeder Lebensphase. Sich nachts auf dem Weg zur Toilette in einer Unterhose zu verheddern, in Eile über ein zentral geparktes Bobbycar zu stürzen, auf einem angekauten Lutschbonbon auszurutschen – die Unfälle bleiben, nur der Schmerz variiert.

Uns fällt der zweite Aspekt aus Largos Buch „Jugendjahre“ ein. Wir Eltern sollen loslassen und Halt geben. Während wir knöcheltief durch den Bonbonverpackungsmorast waten und nicht wissen, welche kantigen oder zerbrechlichen Gegenstände (Spielzeugautos! Monopoly-Hotels! Handys!) dort noch liegen, gilt es aber erst mal, selbst Halt zu finden. Auch das geht einher – hier möchte man Largo ergänzen – mit „einer stark emotionalen Seite“. Anders, weniger pädagogisch gesagt mit einer unbändigen Wut, ständig und unfreiwillig zum Müllmann gemacht zu werden.

So kann es nicht weitergehen, ein neuer Deal muss her. Er lautet: Für jede Süßigkeitenverpackung, die wir in der Wohnung finden, dürfen wir uns einmal aus dem schier unerschöpflichen Schoko-, Keks- und Bonbonarsenal der Kinder bedienen. Rache ist süß. Und Nervennahrung ist prima. Da fällt das Loslassen gleich viel leichter.

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Jahrgang 1969, Leitender Redakteur des Amnesty Journals. War zwischen 2010 und 2020 Chef vom Dienst bei taz.de. Kartoffeldruck, Print und Online seit 1997.

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