Kolumne Das Tuch: Rosenmonat

Gülay wollte helfen. Und wurde Mutter.

Gülay ist Anfang der fünfziger Jahre im Osten der Türkei in einer türkisch-kurdischen Familie geboren worden. Wie alt sie genau ist, weiß sie nicht. Nur dass es im Mai gewesen sein muss, dem Monat der Rose – denn Gülay bedeutet Rosenmonat.

Heute lebt sie im Londoner Stadtteil Wood Green, in dem auch viele andere Kurden, aber auch viele Zyprioten wohnen. Ihre Tochter Gülistan – Rosengarten – wurde in dieser Stadt geboren. Und in dieser Stadt wurde Gülistan auch Mutter ihrer Schwester - ihrer eigenen Mutter Gülay zuliebe.

Eine fröhliche Frau ist Gülay – alt und doch voller Lebenslust. Sie spricht nur gebrochen Englisch, aber ausreichend, um Menschen kennen zu lernen. Viele Menschen. Immer wieder bringt sie Leute mit nach Hause, gibt ihnen Essen, hilft ihnen. Gülistan hat sich an diese Eigenart ihrer Mutter gewöhnt. Aber als eine junge bulgarische Gastarbeiterin zu ihnen kommt, ändert sich alles.

Gülay begegnet Emine im Bus an einem Oktobermorgen. Die junge Frau weint. Gülay setzt sich neben sie, versucht mit ihr zu reden. Und Emine erzählt: Sie war nach England gekommen, um zu arbeiten, Geld zu verdienen und dann nach Bulgarien zurückzukehren, zu ihrem Mann. Zwei Jahre sollten es in England werden. Ein Jahr war um, und nun war sie schwanger – von wem, verriet sie nicht. "Ich muss arbeiten", sagt sie. "Ich muss abtreiben. Ich will nicht. Aber ich muss."

Lange unterhalten sich die beiden Frauen. Gülay verspricht zu helfen, wie schon so oft. In der Schwangerschaft, bei der Geburt, danach.

So ging Emine die nächsten Monate ein und aus bei Gülay, sie wurden zu Freundinnen in der Fremde. In einer Nacht im Mai, im Rosenmonat, war es dann so weit: Gülay hielt während der Entbindung Emines Hand, ihre Tochter Gülistan erledigt im Krankenhaus das Bürokratische. Emine bringt eine gesunde Tochter zur Welt, sie nimmt sie nicht in den Arm. Sie schläft – halbtot vor Erschöpfung – ein. Gülay und Gülistan begrüßen das Kind mit Rosen.

Am nächsten Morgen kommt Gülay ins Krankenhaus, um Emine und das Kind abzuholen. Doch Emine ist weg, nur einen Brief hat sie auf dem Bett zurückgelassen. Sie schreibt, das Kind könne nicht mit nach Bulgarien kommen, ihr Mann würde es niemals akzeptieren. Ihre Tochter sei bei Gülay besser aufgehoben, denn sie sei eine bessere Mutter, als Emine es je werden könnte.

Monatelang suchen Gülay und Gülistan nach Emine. Emine heißt nicht Emine, sondern Katerina, so viel finden sie heraus. Mehr nicht.

Das Mädchen kommt zunächst in eine Pflegefamilie. Gülay will die Kleine zwar adoptieren – doch die Ämter beschieden ihr, sie sei zu alt. Ein Jahr lang dauert das Ringen mit den Behörden. Dann adoptiert nicht Gülay, sondern ihre Tochter Gülistan das Kind.

Gülay nimmt das Baby zu sich und nennt es Cansu – das heißt Lebenselixier – ein türkisch-bulgarischer Name. Cansu lernt heute Bulgarisch und Türkisch. In ihrem Zimmer hängt ein Bild ihrer drei Mütter.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Jahrgang 1988. Autorin des Bestsellers "Sprache und Sein" (Hanser Berlin, 2020). Bis 2013 Kolumnistin der Taz. Schreibt über Sprache, Diskurskultur, Feminismus und Antirassismus.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.