Kolumne Der rote Faden: Aus Klassenfeinden wurden Kunden

Wie Andrej Holm verpflichteten sich viele andere auch bei der Stasi. Aus Pragmatismus oder Opportunismus. Was würden sie Holm heute wohl sagen?

Ein Mann steht allein im völlig verwüsteten ehemaligen Amt für Staatssicherheit - inmitten von verstreuten Akten

Was vom Apparat übrig blieb Foto: dpa

Haben Sie Ihre Haftpflichtversicherung eigentlich auch bei einem ehemaligen Stasioffizier abgeschlossen? Hat Sie einer der Männer, der an der innerdeutschen Grenze Ihren Pass kontrolliert hat, gegen Fahrraddiebstahl und Glasbruch versichert? Oder haben sie ihre Mietrechtschutzversicherung – inklusive Rechtsschutz für Mediationsverfahren und für Ehesachen vor Gerichten – abgeschlossen, während ihnen gegenüber auf dem Sofa ein Panzerkommandant der Nationalen Volksarmee saß oder ein Hauptmann der Volkspolizei? Als ich ein Teenager war, habe ich die Sicherheitsorgane der ehemaligen DDR getroffen. Sie verkauften Versicherungen, die früheren Klassenfeinde waren jetzt Kunden und die, die sie mal bespitzelt hatten, auch.

Irgendwo hatten sie ja hingemusst nach der Wende, der Mittel- und Unterbau des Apparats, der den realen Sozialismus schützen sollte. Niemand wartete in der neuen Welt auf sie, aber sie, in ihren Dreißigern und Vierzigern hatten noch zu viel Leben vor sich, als dass sie sich darüber keine Gedanken machen konnten. Es waren intelligente Männer mit einer Ausbildung, die nun keiner mehr brauchte; aber dafür sind schließlich Fortbildungen da.

Die Versicherungsunternehmen nach der Wende fragten nicht nach Vergangenheit, die interessierte nur, was noch kommen würde. Ein ganzes Land war aufgegangen – ohne Policen, ohne Aktiv-Rechtschutz-Komfort; ein Land, in dem die Leute noch nicht wussten, dass, egal ob sie SPD oder CDU wählten, ob sie an die blühenden Landschaften glaubten, eines unausweichlich war: Sie würden Versicherungsnehmer werden.

Mein Vater war einer dieser Männer, Offizier bei der Na­tio­nalen Volksarmee, er kam zu spät, um den ganz großen Goldrausch mitzumachen. Aber es gab sie noch, die Abschlüsse, die so viel Geld brachten, dass gemeinsam gefeiert wurde, also gesoffen – die Wessis wussten ja nicht, wie man säuft, das hatten sie irgendwann auf dem Weg an die Weltspitze vergessen, obwohl, einen gab es, einziger Sohn reicher Eltern aus Lübeck, enterbt, aber dafür nachtbekannt mit Graciano Rocchigiani.

Die Pistolen benutzen wollten sie nicht

Whiskey, Wein und Kräuterliköre standen auf dem Tisch im Wohnzimmer, nachts lagen dann schnarchende Männer auf Luftmatratzen in meinem Zimmer. Bevor sie schliefen, erzählten sie, wenn ich sie fragte.

Wie war es bei der Staatssicherheit? Nie Selbstzweifel gehabt? Mal jemanden in den Knast gebracht? Hattet ihr Angst 1989, dass es euch an den Kragen geht?

Die einen hatten an die DDR geglaubt, die anderen wollten einen sicheren Job oder irgendwann am Anfang mal eine Frau beeindrucken, und dann waren sie halt dabei geblieben, manche erinnerten sich nicht oder sagten, so war das halt damals, oder auch, ey, ick muss morgen früh raus. Sie erzählten, wie 1989, kurz vor dem Ende, Vorgesetzte ihnen sagten, sie müssten ihre Pistolen nun sicher bald benutzen, nun gelte es, das zu beschützen, was zu beschützen sie geschworen hatten. Sie wollten nicht. Die einen meldeten sich krank, die anderen blieben weg. Andere sagten jaja, machen wir, aber man sei sich damals unter den Jüngeren einig gewesen, dass man im Zweifel einfach nichts tun würde.

Sicher haben sie manches schöngeredet, vergessen, sich nicht erinnert, damals, Mitte der neunziger Jahre, im Rausch unter Schlafsäcken und Wolldecken. Aber ihre Geschichten klangen nicht nach Versuchen, ihre Leben nachträglich in den moralischen Reinraum zu ­verlegen. Vielleicht auch, weil es diesen Männern gut ging. Sie hatten Geld, Familien, Freunde.

Ans sich-nicht-erinnern glauben sie nicht

Dass sie in diesem neuen Staat nichts Großes mehr werden würden, wussten sie, und das schmerzte manchmal, aber es war in Ordnung so. Diesen Männern war klar, für wen sie gearbeitet hatten. Sie wollten nicht das Lob eines 14-Jährigen, weil sie kurz vor Ende etwas Mut aufgebracht hatten.

Sie waren Opportunisten und froh darüber. Sie dankten dem Schicksal, Gott oder ihrem Vorgesetzten von damals, dass sie nichts Schlimmeres getan hatten, dass auch andere in ihren Einheiten waren, die nicht schießen wollten bei den Demons­trationen in Leipzig und Berlin, denn so mussten sie dem letzten Willen des Regimes nicht allein widerstehen.

Wenn man die, die heute noch leben, zum Fall Andrej Holm fragt, dann verstehen diese Männer, dass der nicht für etwas büßen will, was er mit 18 Jahren getan hat. Auch dass er das in der DDR vergleichsweise hohe Gehalt von 675 Mark genommen hat. Wer wusste damals schon, wo die Reise hingehen würde?

Aber dass sich einer nicht erinnern kann, für wen er einmal gearbeitet hat, das glauben sie nicht.

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