Kolumne Der rote Faden: Video killed the Radical Star

Einerseits wunderbar, dass Österreich die Kurz-Strache-Regierung der Herzensrohheit los ist. Andererseits: Man weiß nicht, wo all das endet.

Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache 2017, kurz vor dem Start ihrer Koalition

Regierungspartner, die sich wechselseitig in Fiesheit nur mehr zu überbieten trachteten Foto: dpa

Bis 2008 ging der Neoliberalismus mit dem Versprechen hausieren, alles bleibe im Grunde gleich, würde nur sukzessive besser. Seither ist die Botschaft, mit der er daherkommt: Alles bleibe in etwa gleich, es werde nur immer schlechter. An dieser Pointe ist etwas dran – ich habe sie aus Paul Masons neuem Buch „Klare, lichte Zukunft“ geklaut.

War die erste Botschaft gelogen, aber immerhin beruhigend, ist die zweite schon näher dran an der Wahrheit, aber nicht gerade erbaulich. Bei den einen löst sie Panik aus, bei den anderen einfach Frustration, und bei den Dritten wieder eine Kampfesstimmung à la „Alle gegen alle“. Wenn man sich um die Krümel raufen muss, dann will man in dieser Rauferei wenigstens der Gewinner sein, kann man gut verstehen.

Neoliberale Subjektivierung – das „neoliberale Selbst“ ist ja in aller Munde – heißt Winner-Mentalität, Kult des Erfolges, Anbetung irgendwelcher Alphamenschen.

Neoliberale Subjektivierung gibt es aber auch ganz unten, dort, wo die Gemeinschaften zerbröseln. Hier gibt es eine Art „resignativer Neoliberalisierung“. Verdichtet ist das in dem traurigen Satz: „Ich kümmere mich nur um mich selbst.“ Diese Antwort – und die Variationen, die man zu hören bekommt –, drückt keine stolze Unabhängigkeit aus, sondern ein Gefühl der Resignation und der Enttäuschung. Individualisierung unten heißt egozentrischer Kampf ums Überleben und kein Blick nach links und rechts.

Zack, zack, zack weiter

Gesellschaftlichkeit, die nach und nach zusammenbricht. Währenddessen bricht auch das gewohnte politische System zusammen. Bei mir daheim ist die Zusammenbruchsspirale gerade in der nächsten, beschleunigten Drehung angelangt. Der Zusammenbruch des Gesellschaftlichen hat uns zunächst eine zunehmende populistische Verschärfung eingebrockt, einen Aufstieg des Rechtsextremismus, dann eine nach rechts gewendete Christdemokratie, die die harten Rechten kopierte, und danach 17 Monate „Herrschaft der Niedertracht“.

Bis dieses Rechts-rechts-Bündnis aus Partnern, die sich wechselseitig in Fiesheit nur mehr zu überbieten trachteten, in einem großen Knall zerbrach. Video killed the Radical Star. Gefühlt geht’s so jetzt täglich zack, zack, zack weiter. Nach dem Regierungskollaps der erste Misstrauensantrag gegen einen Regierungschef, der eine Mehrheit findet.

Regierungssturz, ein Caretaker-Government muss übernehmen, das fast so wie eine „Regierung der nationalen Einheit“ zusammengesetzt ist. Solche Regierungen gibt’s ja üblicherweise eher nach Revolutionen, verlorenen Kriegen oder nach einer Staatspleite.

Nun ja, es ist wie ein Kippbild. Einerseits ist alles wunderbar, vor allem, dass man die Kurz-Strache-Regierung der Gefühls- und Herzensrohheit los ist; andererseits ist dieses Regieren im Notmodus und das hektische Herumgehampel, das hilflose Taktieren der Parteipolitiker, denen die Felle davonschwimmen, wiederum selbst Teil des Bildes eines allmählichen Zusammenbruchs.

Die allmähliche Kernschmelze aller Gewissheiten

Man weiß nicht recht, wo all das enden soll. Ja, es gibt neue Stabilitäten, aber es gibt auch grundlegende Instabilitäten – oder nicht mehr als prekäre Balancen, auf die man besser nicht bauen will.

So ein Kippbild sieht man ja auch, wenn man nach Deutschland blickt. Die SPD, langsam zur Splitterpartei zertrümmert, die ihre glücklose Vorsitzende so schwer verwundet hat, dass ihr gar nichts mehr übrig bleibt, als hinzuwerfen; nunmehr geführt von einem Trio, das die Trümmer über die Monate schleppen soll – aber wohin genau?

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Eine Christdemokratie, der es nur unwesentlich besser geht. Und die Grünen, die – sensationell – in den Umfragen erstmals auf Platz eins liegen. Das ist ja durchaus eine erfreuliche Konsequenz dieser allmählichen Kernschmelze aller Gewissheiten. Aber eben auch nur eine prekäre Balance. Alles Ständische und Stehende verdampft.

Was man gestern diskutierte, gerät heute schon wieder in den Hintergrund. Zuletzt war ja der dernier cri der politischen Debattenwelt, dass die klassischen Mitte-links-Parteien die berühmten „einfachen Leute“ zu verlieren drohen, die alte weiße Arbeiterklasse, die neuen Unterschichten, die Wütenden und Abgehängten. Seit den Europa­wahlen stellen die dortigen „Strategen“ mit Panik fest, dass noch etwas Schlimmeres passieren kann: dass sie auch die neuen progressiven Mittelschichten verlieren können und dass die ein viel relevanterer Wählerstock sind.

Peppone-Sozen

Simpel gesagt: Ohne die Schwundformen der alten Arbeiterklasse fällst du von 40 auf 30 Prozent zurück, ohne die liberalen Mittelschichten aber dann so grob gesagt von 30 auf 10 Prozent. Wer gestern noch einen „rechten“ Peppone-Sozi darstellen wollte, macht jetzt panisch auf Greta Thunberg, um die progressive Jugend zu umgarnen.

Man kann diese Wendungen herrlich skurril finden. Aber sie zeigen auch, wie gerade überall alles wackelt.

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

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