Kolumne Die Couchreporter: Die reale Vergangenheit

„Alias Grace“ ist die dritte Margaret-Atwood-Adaption in diesem Jahr. Es geht um Klasse, Herkunft und Geschlecht im 19. Jahrhundert.

Junge Frau mit weißer Haube

Sarah Gadon als Hausangestellte Grace Marks Foto: Netflix

„Ich entschuldige mich bei Margaret Atwood“, kommentierte Kazuo Ishiguro, der diesjährige Literaturnobelpreisträger, kurz nachdem ihn die frohe Nachricht erreicht hatte. Seiner Ansicht nach hätte die kanadische Autorin den Preis mehr verdient. Letzten Monat wurde Atwood immerhin vom Deutschen Buchhandel mit dem Friedenspreis geehrt. 30 Jahre nach der Veröffentlichung des Romans „Handmaid’s Tale“ ist sie also wieder in aller Munde.

Das lässt sich auch darauf zurückführen, dass sie von Serienmacher*innen entdeckt wurde: Denn nach der Verfilmung des dystopischen „Handmaid’s Tale“ und der Kinderserie „Wandering Wenda“ ist „Alias Grace“ schon die dritte Serie in diesem Jahr, die auf einem Roman Atwoods basiert. Adaptiert von Sarah Polley für den kanadischen Sender CBS, ist die achtteilige Miniserie in Deutschland bei Netflix zu sehen.

Die Erzählung spielt in der Mitte des 19. Jahrhunderts und beruht auf einer wahren Begebenheit. Thomas Kinnear (Paul Gross) und seine Haushälterin Nancy Montgomery (Anna Paquin) wurden ermordet, die Angestellten James McDermott (Kerr Logan) und Grace Marks (Sarah Gadon) für die Tat verurteilt.

Als weiterer Protagonist kommt Dr. Simon Jordan (Edward Holcroft) hinzu. Jordan ist ein gefragter Psychi­ater und soll zehn Jahre nach der Verurteilung herausfinden, ob Grace nicht doch unschuldig ist. Im Voice-Over erzählt Grace ihre Lebensgeschichte und bleibt damit nah am Text des Buches. Eine Geschichte über Klasse, Herkunft und Geschlecht im 19. Jahrhundert.

Die nach Kanada emigrierte Irin Grace hat ihre Mutter als Kind verloren und sich fortan um die Erziehung ihrer jüngeren Geschwister gekümmert. Ihr Vater hat sie missbraucht und zum Arbeiten geschickt, um sich mit ihrem Lohn seinen Alkohol leisten zu können. Sie findet Arbeit als Bedienstete in einem Haushalt, in dem der Vater und die Söhne die An­gestellten wie ihr Spielzeug behandeln. Sobald einem die Lust daran vergeht, lässt man es fallen.

Dies bekommt ihre beste und einzige Freundin zu spüren, die an den Folgen ­eines heimlichen und illegalen Schwangerschaftsabbruchs stirbt. Der Vater des Ungeborenen ist der Sohn der Hausherrin. Das hierarchische Verhältnis zwingt sie zur Abtreibung, denn wer glaubt schon einer Haushälterin.

Während „The Handmaid’s Tale“ von einer dystopischen Zukunft erzählt, wirft „Alias Grace“ einen Blick in die reale Vergangenheit um 1843 im kanadischen Südosten. Es geht um sexuellen Missbrauch und das gesellschaftliche Misstrauen gegenüber den Geschichten der Frauen. Um die Privilegien weißer Männer und wie sie diese zu ihrem eigenen Vorteil nutzen. Machtstrukturen, die auch die aktuelle #metoo-Debatte offenbart.

Die Handlung der Serie ist also beängstigend aktuell. Erschreckend, wie viele Gemeinsamkeiten das Frauenbild des 19. Jahrhundert noch mit dem unserer Gegenwart aufweist. Und bewundernswert, wie Atwood mit ihren Romanen der letzten Jahrzehnte uns unsere heutigen Narrative und Debatten erklären kann. Allein dafür hat sie den Literaturnobelpreis verdient.

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Ressortleiterin bei taz zwei - dem Ressort für Gesellschaft und Medien. Schreibt hauptsächlich über intersektionalen Feminismus, (digitale) Gewalt gegen Frauen und Popphänomene. Studium der Literatur- und Kulturwisseschaften in Dresden und Berlin. Seit 2017 bei der taz.

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