Kolumne Down: Er wurde böse, wir immer fieser

Als unsere Kolumnistin klein war, mobbte sie zusammen mit anderen Kindern einen behinderten Jungen. Noch heute hört sie ihr hämisches Lachen.

Gruppendynamik bei Kindern: grausam Bild: imago/emil

Was heißt eigentlich „behindert“? Und ist das nicht ein wahrlich dummes Wort für Menschen, die einfach nur andere Begabungen als die Mehrheitsgesellschaft haben? Warum wird uns ständig suggeriert, Behinderte seien minderbemittelt? Ja, und wer definiert eigentlich all diese Zuschreibungen? Heute kenne ich die Antworten auf meine Fragen, aber als Deniz noch nicht auf der Welt war, habe ich mich nie um solche Sachen gekümmert – warum auch? Ich war selbst ein Kind.

Als ich klein war, waren Behinderte für mich seltsame Menschen, in unserer Familie oder im Freundeskreis hatte niemand ein Handicap. In meiner unmittelbaren Umgebung gab es lediglich einen Nachbarsjungen, der geistig und körperlich beeinträchtigt war. Und deswegen fand ich ihn doof – genauso wie all meine Freunde, mit denen ich spielte. Warum wir ihn nicht mochten?

Es gab keinen Grund, er war halt anders als wir, und das reichte schon für unseren Spott. Manchmal stellten wir uns vor sein Fenster, machten blöde Witze und ärgerten ihn.

Ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, wie viele Kinder wir waren oder warum wir mal wieder solch eine blöde Idee hatten. Ich kann mich nur an einen Sommertag erinnern, an meinen geblümten Rock und meinen frechen Kurzhaarschnitt mit einem kecken Pony. Mit einer Gruppe von Freunden bauten wir uns vor dem Fenster des Nachbarjungen auf, der aus dem zweiten Stock auf uns herunterschaute.

Noch heute sehe ich mich dabei, wie ich Grimassen zog, wie wir alle lachten. Noch heute habe ich die Geräusche im Ohr, mit denen wir den Jungen nachäfften. Es waren furchtbare Töne, für die ich mich immer noch schäme. Und noch heute höre ich den Jungen, der nicht sprechen konnte, der sich von uns provozieren ließ und sich mit für uns undefinierbaren Lauten zu wehren versuchte.

Wir machten weiter, weil wir es lustig fanden, wie ein wehrloser Mensch auf unseren Schabernack reagierte. Wir hielten uns die Bäuche fest vor lauter Lachen, er wurde immer böser und wir immer fieser. Wir zeigten mit unseren Fingern auf ihn, hopsten vor dem Fenster hin und her.

Spielkameraden

Da wir wussten, dass er nicht aus dem Haus kommen konnte, um uns zu schnappen, hatten wir auch keine Angst. Was hätte uns dieser seltsame Mensch mit diesem verdrehten Körper schon anhaben können? Nichts! All das zog sich hin, bis irgendwann seine Eltern erschienen und uns wegjagten – dann rannten wir um den Häuserblock und machten anschließend einfach weiter.

Man sagt immer, Kinder würden das nachmachen, was ihre Eltern ihnen zu Hause vorleben. Aber das stimmt nicht unbedingt. Hätte meine Familie gewusst, was ich dort draußen trieb, ich hätte mächtigen Ärger bekommen. Denn bei uns galt schon immer die Regel, dass jeder Mensch gleich ist und keiner gleicher.

Doch sobald ich meine Spielkameraden traf, wir uns langweilten, ließ ich mich von der Gruppendynamik mitziehen und mobbte einen schutzbedürftigen Menschen. Dass ich später mal meinen eigenen Bruder vor solchen Kindern wie mir schützen musste, daran hätte ich niemals gedacht.

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Jahrgang 1978, studierte Slavistik und Völkerrecht an der Uni Köln. Anschließend Ausbildung an der Berliner Journalisten Schule. Seit 2006 bei der taz, zunächst im Inlandsressort, 2007 Wechsel zu tazzwei. Schwerpunkte hier waren Islamismus und NS. Nach Aufenthalten im Nahen Osten, in Zentralafrika, China und Südostasien ging sie 2014 als Korrespondentin nach Istanbul. Sie ist Autorin des 2015 erschienenen Sachbuches "Generation Erdoğan" (Kremayr & Scheriau).

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