Kolumne German Angst: Wir nennen es „Israelkritik“

Feuer auf eine Synagoge – kein Antisemitismus. Anschlag auf einen jüdischen Supermarkt – kein Antisemitismus. Die deutsche Logik ist relativierend.

Alltag in Deutschland: Polizei vor der jüdischen Joseph-Carlebach-Schule in Hamburg. Bild: dpa

Vor einer Woche trieben etwa 300 Anhänger des Schweizer Fußballclubs FC Luzern einen als orthodoxen Juden verkleideten St.-Gallen-Anhänger durch die Straßen. Das war aber symbolisch gemeint, karnevalistisch eben und – selbstverständlich! – nicht antisemitisch. Versteht denn keiner mehr Spaß?, fragten die Fans.

Ein bisschen erinnerte die Szene an den Film „Borat“. Sacha Baron Cohen stellt darin die Tradition des „Judenrennens“ vor: Das Volk jagt eine nach dem antisemitischen Klischee gefertigte Pappmachéfigur. Das ist tatsächlich komisch, weil eine Überzeichnung der abstrusen Welt des europäischen Antisemitismus. Doch ohne den Perspektivwechsel ist die St. Gallener Szene nur eine Jagd. Nicht lustig.

Zumal es zuletzt in Europa einige antisemitische Mordanschläge gab: Toulouse, Burgas, Brüssel, Paris, Kopenhagen. Und Attacken nehmen auch in Deutschland zu. Die Jüdische Gemeinde Berlin verschickt ihre Zeitung nur noch im neutralen Umschlag – zum Schutz ihrer Mitglieder. Dazu passt die Empfehlung, besser auf die Kippa zu verzichten. Juden sind in Deutschland bedroht? Nicht, wenn man sie nicht erkennt.

Die Bezeichnung ungenannt

Geht es noch zynischer? Ja. In Deutschland nämlich wird der Antisemitismus relativiert. Etwa nach dem antisemitischen Attentat auf den Supermarkt in Paris. Hier sprach man von Geiseln, ganz so, als habe der Täter etwas erpressen wollen, oder verbrämt von „einem“, manchmal einem „koscheren“ Supermarkt und schaffte so das Kunststück, das Attentat, bei dem vier Menschen sterben mussten, weil sie Juden waren, nicht antisemitisch zu nennen.

Und während in Frankreich, Belgien und Dänemark die Sicherheitsvorkehrungen für jüdische Einrichtungen verschärft wurden, verteilt die deutsche Justiz Freifahrtscheine für AntisemitInnen.

Im Sommer flogen Brandsätze auf die Wuppertaler Synagoge. Das Gericht aber konnte beim besten Willen keinen Antisemitismus erkennen; die Attentäter hätten auf den Gazakrieg aufmerksam machen wollen. Wir nennen das Israelkritik: jüdische Gotteshäuser anzünden und so. Keine Kerze, sondern gleich ein Feuer für den Frieden. Und dann das unfassbare Urteil in München, nachdem ein Antisemit nur ist, wer sich positiv auf den NS bezieht.

Erfolgreiches Verdrängen

Irgendwie ist es da nur konsequent, dass die Antisemitismus-Kommission des Innenministeriums gleich ganz auf einen jüdischen Experten verzichtet. Warum auch nicht? Der moderne Antisemitismus braucht schließlich auch keine Juden! „Kritiker sind entsetzt“, kommentierte Spon die Entscheidung. Und ein Kollege schrieb auf Facebook in etwa: Was regen sich alle so auf? An der Wannsee-Konferenz hatte ja auch kein Jude teilnehmen dürfen.

Zynisch, ja. Aber was bleibt einem bei dieser Ignoranz gegen die antisemitische Realität, dem Auseinanderdriften zwischen dem radikalen Hass gegen Jüdinnen und Juden und dem grotesken Drang der Institutionen, selbst Anschläge zur Symbolpolitik umzudeuten. Es scheint ganz so, als hätte die deutsche Öffentlichkeit erfolgreich verdrängt, dass es die vergangenen 200 Jahre gegeben hat.

Update: In einer früheren Version dieses Beitrags hieß es fälschlichweise, St. Gallener Fans hätten einen Fan des FC Luzern gejagt. Es verhielt sich jedoch genau anders herum.

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Vollzeitautorin und Teilzeitverlegerin, Gender- und Osteuropawissenschaftlerin.

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