Kolumne Gott und die Welt: Unsolidarisch und taub

Kurzschlüsse, Unkenntnis und pauschale Vorurteile: Die Kritik an der israelischen Siedlungspolitik im Westjordanland ist voll davon. Es gibt aber auch vernünftige Analysen.

Das Getöse um Günter Grass’ Meinungen zu Israel hat das Interesse für einen der Kernkonflikte des Nahen Ostens, die Besiedlung des Westjordanlandes durch den Staat Israel, übertönt. Das sollte endlich vorbei sein – mehrere Neuerscheinungen unterschiedlicher Qualität können dabei behilflich sein.

Nach überwiegender völkerrechtlicher Lehre widerspricht die Besiedlung internationalem Recht, politisch wird dadurch die Chance für eine „Zweistaatenlösung“ immer unwahrscheinlicher. Die Siedlerbewegung beruft sich zur Legitimierung dieses Tuns keineswegs auf sicherheitspolitische Erwägungen, sondern auf die biblischen Landverheißungen. Diesen Argumenten haben sich auch christliche Theologen keineswegs nur evangelikaler Provenienz angeschlossen.

Jetzt versucht ein amerikanisch-jüdischer Friedensaktivist, der Psychotherapeut Mark Braverman, in seinem Buch „Verhängnisvolle Scham. Israels Politik und das Schweigen der Christen“ aus einer – wie er meint – jüdischen Sicht heraus christliche Sympathisanten davon zu überzeugen, ihre Solidarität mit Israel und der Siedlerbewegung aufzukündigen und sie palästinensischen Christen zukommen zu lassen.

Biblizistische Argumentation

Doch leider kann der ebenfalls biblizistisch argumentierende Braverman sein Engagement nur judenfeindlich begründen – ist doch seiner Meinung nach der jüdische Glaube nur ein Ausdruck von krassem Materialismus: „Die Thora ist kein Evangelium. Auserwählung ist nicht das Gleiche wie Gnade. Der alttestamentliche Bund ist nicht das neutestamentliche Heilsgeschenk. Die Verheißung im Judentum handelt nicht von der Vergebung der Sünde. Vielmehr geht es hier um Segnung in dem Sinn, wie die antike Welt diesen Begriff verstand: um Volkstum, Nachkommenschaft, Wohlstand und – im Fall des Judentums – Land.“

Tatsächlich verfügt Braverman nicht über die theologischen Mittel, seinen guten Willen „jüdisch“ zu begründen, und zwar deshalb nicht, weil er sich ausschließlich auf die Bibel bezieht und weder willens noch in der Lage ist, die universalistischen Gehalte prophetischer Verkündigung für seine Solidarität mit den Palästinensern aufzubieten, ganz zu schweigen von jener Tradition, die die jüdische Religion wesentlich ausmacht: die Schriften des rabbinischen Judentums.

Wem diese Form einer Kritik an der israelischen Siedlungspolitik nicht genügt, sei daher auf Carlo Strengers Buch „Israel. Einführung in ein schwieriges Land“ verwiesen. Der Autor, Professor für Psychologie an der Universität Tel Aviv, analysiert die Lage mit dem Besteck des sowohl tiefenpsychologisch als auch sozialwissenschaftlich versierten Intellektuellen. Im Unterschied zu Braverman, der als Bürger der USA die politischen Folgen seiner Meinungen nicht zu tragen hat, äußert sich Strenger als engagierter Bürger des Staates Israel.

Er geht den durch die Besatzung verursachten innergesellschaftlichen Spaltungen der israelischen Gesellschaft nach und neigt auch nicht dazu, die politisch unheilvoll wirkende nationalreligiöse Orthodoxie mit dem Judentum im Ganzen zu verrechnen. Mit der inneren Dynamik des israelischen politischen Systems vertraut, erklärt Strenger, warum eine im Grunde säkulare, nationalistische Rechte sich die Gunst dieser fundamentalistischen Gruppen um jeden Preis erhalten muss.

Selbstgerechte Kritiker

Freilich macht es Strenger auch zu selbstgerechten Kritikern der israelischen Politik nicht leicht: Mit demselben scharfen Blick, mit dem er die Dynamik der israelischen Gesellschaft und das Versagen ihrer Regierungspolitik untersucht, nimmt er die israelfeindlichen Fraktionen der europäischen Linken unter die Lupe und weist ihnen Kurzschlüsse, Unkenntnis und pauschale Vorurteile nach. Vor allem aber – und darauf kommt es an – zeigt er, wie unsolidarisch und taub diese „internationalistische“ Linke die israelische Opposition – Menschenrechtsgruppen, Medien und NGOs, die sich um einen Ausgleich mit den Palästinensern bemühen – ignoriert.

Wirklich weiterführend, weil er auch die Stimme der Palästinenser repräsentiert, ist ein soeben unter dem Titel „Israel und Palästina. Recht auf Frieden und Recht auf Land“ erschienener Gesprächsband, in dem sich der durch sein Pamphlet „Empört Euch“ bekannt gewordene französische Publizist Stéphane Hessel und der Botschafter Palästinas bei der Unesco, Elias Sanbar, über ihre Lebensgeschichten, Hoffnungen und Enttäuschungen so eindringlich unterhalten, wie das im Gespräch zwischen Juden aus der Diaspora und Palästinensern bisher kaum möglich war.

Mehr noch als der gewiss aufrichtige, aber doch zu moralistisch argumentierende Hessel beeindruckt der nicht nur lebenskluge, sondern im besten Sinn politisch denkende Elias Sanbar, der – sowohl geschichtsphilosophisch als auch poetisch belehrt – für den künftigen Staat Palästina Hegels „List der Vernunft“ bemüht. Wer wissen will, warum es nicht nur eine diplomatische Torheit, sondern ein schwerer politischer Fehler der Bundesregierung war, die Aufnahme Palästinas in die UN zu verhindern, findet hier seine Gründe.

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1947 in der Schweiz geboren, seit 1952 in Frankfurt/Main. Studium der Philosophie und Pädagogik in Jerusalem und Frankfurt/Main. Nach akademischen Lehr- und Wanderjahren von 2000 bis März 2013 Professor für Theorien der Bildung und Erziehung in Frankfurt/Main. Dort von 2000 bis 2005 Direktor des Fritz Bauer Instituts – Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocaust. Forschung und Publikationen zu moralischer Sozialisation, Bildungsphilosophie sowie jüdischer Kultur- und Religionsphilosophie. Zuletzt Kritik des Zionismus, Berlin 2006, Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts, Weinheim 2006 sowie Kurze Geschichte: Judentum, Berlin 2009, sowie Entstehung des Christentums, Berlin 2010.Darüber hinaus ist er Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik.“

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