Kolumne Gott und die Welt: Leere Hände, leere Debatte

Ein Imam wollte Julia Klöckner nicht die Hand schütteln. Warum auch immer – aber mit fehlender Treue zur Verfassung hat das nichts zu tun.

Zwei Hände sind ausgestreckt und bereit zum Schütteln

Ready for Shake-off: So weit haben es Klöckner und der Imam nicht gebracht. Foto: dpa

Vermeintlich Empörendes hatte die rheinland-pfälzische CDU-Vorsitzende Julia Klöckner, eine bekennende evangelische Christin, mitzuteilen: Nach ihrer Ankündigung, ein von Muslimen belegtes Flüchtlingslager zu besuchen, habe der dort amtierende Imam mitteilen lassen, ihr aus religiösen Gründen nicht die Hand geben zu können – woraufhin Klöckner ihren Besuch absagte. Als diese Episode in einer Talkshow zum Besten gegeben wurde, berichtete die nordrhein-westfälische Bildungsministerin Sylvia Löhrmann, ihr sei dasselbe mal mit einer Gruppe orthodoxer Juden geschehen.

Nach kurzem Schweigen erörterte die Talkrunde dann umso lebhafter die Frage, ob die Weigerung frommer Männer, Frauen die Hand zu geben, ein Indikator mangelnder Integrationswilligkeit sei. Damit wurde das Händeschütteln zwischen Männern und Frauen als Beweis dafür, die Werteordnung Deutschlands, ja das Grundgesetz anerkannt zu haben, inthronisiert. Das heißt jedoch umgekehrt: Männer, die sich aus religiösen wie auch immer verqueren Keuschheitsvorstellungen heraus weigern, Frauen die Hand zu geben, beweisen damit die deutsche Verfassung und ihr höchstes Prinzip, die „Würde des Menschen“ nicht achten zu wollen.

Aber was steht tatsächlich in Artikel 1 des Grundgesetzes?

„(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“

Die Würde des Menschen zu schützen, verpflichtet gemäß unserer Verfassung zuallererst den deutschen Staat und seine Institutionen, nicht aber den einzelnen Bürger. Menschen, die die Würde anderer durch Schmähungen oder Beleidigungen herabsetzen, sind ein Fall fürs Strafgesetz, nicht für die Verfassungsgerichte oder gar für das Völkerstrafgesetz. Ja, auch einzelne Personen, Gruppen, Parteien können sich verfassungswidrig verhalten – das mühsame NPD-Verbotsverfahren zeigt etwa, wie schwierig der Nachweis im Einzelfall ist. Indem Menschen sich aber weigern, anderen die Hand zu reichen, verstoßen sie schlimmstenfalls gegen Umgangsformen, nicht aber gegen ominöse „Werteordnungen“ oder gar die Verfassung.

Schnell zeigt sich, dass in den aufgeregten Debatten darüber, ob Einwanderer oder Flüchtlinge tatsächlich die „Leitkultur“ oder die „Werteordnung“ dieses Landes akzeptieren, die meisten jener, die Immigranten auf eine „Werteordnung“ verpflichten wollen, einem Missverständnis unterliegen: zwischen Verfassungsprinzipien hier und mehr oder minder beliebigen Umgangsformen oder Konventionen dort.

Es gibt keine „Parallelgesellschaft

Daher besteht auch nicht der geringste Grund, den schon vor Jahren zu Recht kritisierten Begriff der „Leitkultur“ zu rehabilitieren. Er ist ebenso unsinnig wie der pseudosoziologische Begriff der „Parallelgesellschaft“. Ja, es gibt Subkulturen, deren alltägliche Umgangsformen sich von denen der Mehrheit unterscheiden, aber keine „Parallelgesellschaft“. Schlicht deshalb, weil es – wie zumal die systemtheoretische Soziologie Niklas Luhmanns gelehrt hat – nur eine einzige „Gesellschaft“ als jenes soziale System, das alle anderen sozialen Systeme in sich einschließt, gibt.

Aber was ist es dann, mögen besorgte BürgerInnen fragen, was am Ende die deutsche Gesellschaft zusammenhält oder zusammenhalten wird? Dann aber ist zurückzufragen: Was heißt hier eigentlich „Zusammenhalt“ und worin besteht er? In einer niedrigen Kriminalitäts-, Krankheits- und Suizidquote oder geringen Scheidungsrate? Oder gar in nur geringen Einkommensunterschieden zwischen den am besten und den am schlechtesten Verdienenden? Und was hat oder hätte dies alles mit Immigranten oder Flüchtlingen zu tun? In welchen Bereichen sie über oder unter dem Durchschnitt entsprechender Krisenindikatoren im Vergleich zur seit Längerem ansässigen Bevölkerung lägen?

Was auch immer die Verweigerung eines Händedrucks ausdrücken mag – mit fehlender Treue zur Verfassung und den rechtlichen Prinzipien einer liberalen Gesellschaft hat das rein gar nichts zu tun. Im Gegenteil: PolitikerInnen, die andere über die Kenntnis der Umgangssprache und Gesetzestreue hinaus zu irgendwelchen Konventionen zwingen wollen und dies als „Integration“ preisen, erweisen sich als das, was sie doch bekämpfen wollen: als illiberal!

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1947 in der Schweiz geboren, seit 1952 in Frankfurt/Main. Studium der Philosophie und Pädagogik in Jerusalem und Frankfurt/Main. Nach akademischen Lehr- und Wanderjahren von 2000 bis März 2013 Professor für Theorien der Bildung und Erziehung in Frankfurt/Main. Dort von 2000 bis 2005 Direktor des Fritz Bauer Instituts – Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocaust. Forschung und Publikationen zu moralischer Sozialisation, Bildungsphilosophie sowie jüdischer Kultur- und Religionsphilosophie. Zuletzt Kritik des Zionismus, Berlin 2006, Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts, Weinheim 2006 sowie Kurze Geschichte: Judentum, Berlin 2009, sowie Entstehung des Christentums, Berlin 2010.Darüber hinaus ist er Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik.“

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