Kolumne Gott und die Welt: Der Niedergang des Mittelwegs

Der Nationalismus triumphiert. Er profitiert von der Demokratieverdrossenheit der abgehängten Wähler. Es fehlt eine Debatte zur sozialen Frage.

Pegida-Teilnehmer_innen halten Schilder und Fahnen hoch

Hier demonstrieren die Verdrossenen Foto: dpa

Wie lange nicht mehr, ist Politik auf Erkenntnisse, auf Ursachenforschung angewiesen – auf Antworten auf die Frage, warum in allen westlichen Gesellschaften – von den USA bis nach Polen – der Nationalismus triumphiert und rechtspopulistische Parteien in die Parlamente, ja sogar an die Regierung katapultiert.

Gewiss: Derzeit werden Öffentlichkeit und Politik von Soziologen mit sensiblen Zustandsbeschreibungen konfrontiert: mit Analysen der Bedeutung von Stimmungen im Raum des Politischen, Analysen unterschiedlicher Formen des Unbehagens sowie klugen Erwägungen darüber, dass die digitalisierte, die beschleunigte Welt den Menschen immer erratischer, minder resonant erscheint.

Will man härtere, belastbarere Einsichten, ist man mit klassischer soziologischer Forschung gut beraten, die von der Publizistik kaum, von der professionellen Politik überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurde. Im vergangenen Jahr publizierte Armin Schäfer, er forscht am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, eine Studie unter dem Titel „Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet“.

Darin wird in einem internationalen Vergleich empirisch nachgewiesen, dass es die von den jeweils am schlechtesten gestellten Schichten wahrgenommene, wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft war, die die Wählerinnen dieser Gruppen in zunehmende Distanz zur organisierten Politik trieb. So verzichteten 2013 bei der Bundestagswahl etwa 18 Millionen Wähler darauf, ihre Stimme abzugeben.

„Je länger“ – so Schäfer – „ein Land demokratisch regiert worden war, desto gleichmäßiger fiel die Einkommensverteilung aus – und je egalitärer ein Land war, desto stabiler erwies sich die Demokratie. Doch zumindest der erste Zusammenhang gilt seither nicht mehr. Zuerst in den angelsächsischen, dann in den kontinentaleuropäischen und schließlich auch in den skandinavischen Ländern hat die Einkommensungleichheit in den letzten 25 Jahren zugenommen.“

Wenn dies zutrifft, erweist sich ein großer Teil der Themen, die derzeit das Publikum erregen, als klassische ideologische Ablenkung. Auch die derzeit von Politikern aller Parteien vorgebrachte Floskel, man müsse die Sorgen der Leute, die rechtspopulistischen bis rechtsextremen Parolen und Parteien zuneigen, ernst nehmen, erweist sich vor diesem Hintergrund als hohl. Tatsächlich wird die Lösung des Problems durch einen nationalen Neoliberalismus keineswegs erleichtert – im Gegenteil: neoliberale Politik, wie die AfD sie will, verstärkt die Demokratieverdrossenheit, damit die Abstinenz weiterer Bevölkerungskreise, die dann wiederum rechtspopulistisch durch Ablenkungsthemen wie den angeblichen Verlust deutscher Kultur oder die Flüchtlingsfrage aufgefangen werden.

Debatten über den Mindestlohn und die Rente in einer alternden Gesellschaft spielen das Thema an, entfalten es jedoch nicht.

Freilich, jenseits der Linken ist derzeit weit und breit keine politische Partei – von der CSU bis zu den Grünen – zu sehen, die diese Thematik ins Zentrum ihres öffentlichen Auftretens stellt. Debatten über den Mindestlohn und die Rente in einer alternden Gesellschaft spielen das Thema an, entfalten es jedoch nicht.

Eine große, offensive Debatte über eine Reform der Besteuerung – von der Vermögen- bis zur Erbschaftsteuer – ist so wenig in Sicht wie eine Debatte über die zunehmende Gentrifizierung von Wohnbezirken bzw. den weiteren Ausbau von Bildungsangeboten für Kinder aus sozial abgehängten Schichten. Nicht, dass es diese Debatten nicht gäbe, nicht, dass fleißige Fachpolitiker dazu keine Entwürfe in ihren Schubladen hätten, ist das Problem.

Es liegt vielmehr darin, dass sich die genannten Parteien scheuen, diese Frage offensiv ins Zentrum ihres Auftretens zu stellen. Das mag bei CDU/CSU und FDP noch verständlich sein, sogar bei den Grünen, die als Partei des jüngeren Bildungsbürgertums für soziale Fragen noch nie eine besondere Sensibilität aufwiesen, bleibt aber bei der SPD unverständlich. Die größte, historisch bedeutsamste und traditionsreichste Partei droht an der Wahlurne von dumpfen, neoliberalen Rechtspopulisten überholt zu werden. Angesichts dieser Lage kann nur noch gelten: „In Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod.“

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lebt in Berlin und arbeitet am Zentrum Jüdische Studien.

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