Kolumne Herbstzeitlos: Auf die Pflanze gekommen

Erst kommen alle auf Kinder und der Rest kommt dann auf den Hund. Ich bin davongekommen – und renne mit der Gießkanne herum.

Blick von oben auf einen Balkon, zwei Menschen sitzen am Tisch und rauchen, daneben Blümchen

Das Paradies ist tatsächlich gleich nebenan, und es gibt immer was zu tun Foto: wikimedia/Thyes (CC3.0)

Auf dem kleinen Balkon in Berlin-Neukölln versammeln sich, von links nach rechts durchgezählt, folgende Gewächse: ein übrig gebliebener Weihnachtsstern vom letzten Jahr, drei Rosenbüsche, eine pink blühende Begonie, wilder Majoran aus Rehberge, eine weiße Buschrose, eine Sonnenblume, Lavendel, Rosmarin und – rankbereit in der Nähe des Regenabwasserrohrs untergebracht – die „Schwarzäugige Susanna“, die ich bei einem Tag der Offenen Tür einer Gartenlehrwerkstatt für psychisch Kranke erworben habe.

Vor ungefähr fünf Jahren, nach einer Trennung, ging es mir auch nicht besonders gut. Die Pflanzkästen auf dem Balkon dienten ausschließlich als Aschenbecher. Das ging so lange, bis es eines Tages zu einem Aufsehen erregenden Torfbrand kam und ein guter Freund mit einem ausgeglicheneren Verhältnis zur Welt sich meiner annahm: An seinem freien Tag kam er angebraust, den Kofferraum voller Pflanzen, Pflanzerde sowie einer Flasche Champagner.

Rauchend und Champagner in mich hinein kippend sah ich dabei zu, wie er Erika und ein silbrig schimmerndes Gewächs nebeneinander in die dunkle Erde fügte. Völlig unfähig, selbst Hand anzulegen. Das Gewächs war farblich harmonisch und pflegeleicht angelegt, also sogar für mich gut zu handhaben.

Die Bepflanzung war therapeutisch gemeint, und ich konnte das sogar „gut annehmen“. Heißt, ich goss die in straffer Ordnung stehenden Pflanzen auf dem Balkon tatsächlich regelmäßig und unterließ es von nun an, meine Zigaretten dort auszudrücken.

Einen ganzen Sommer lang passte ich gut auf. Dann kam der Winter, und als er vorbei war, war wieder Wüste auf dem Balkon, und das blieb auch noch eine ganze Weile so. Es wurde wieder geraucht, geascht und ausgedrückt.

Bezupft, gestreichelt, beschnuppert, bewundert

Heute ist das Rauchen nun eingestellt, und in den Kästen blüht es kunterbunt und durcheinander. Kommt eine Laus, wird ihr mit Hilfe ökologischer Kampfstoffe der Garaus gemacht, und es ist immer genug Wasser für alle da. Es gibt einen Plaste-Flamingo mit Propeller, eine grüne Gießkanne und eine Rosenschere. Die schwarzäugige Susanna wird bezupft und gestreichelt, der Lavendel beschnuppert und die Rosen bewundert.

Während in meinem Ü40-Freundeskreis immer mehr Menschen verzweifelt auf den Hund kommen – also zumindest jene, die nicht schon auf Kinder gekommen sind – renne ich mit der Ikea-Gießkanne herum und zupfe Blättchen. Ich bin auf die Pflanze gekommen!

Gut nur, dass es in meinem Leben nicht nur die „schwarzäugige Susanna“ gibt, sondern auch noch meinen Boyfriend, der beim Gießen, bezupfen, streicheln, beschnuppern und bewundern tatkräftig hilft. Sonst müsste man sich womöglich doch wieder Sorgen machen um mein seelisches Befinden.

Kein Tabakaqualm mehr und keine Depression. Die Hummeln und die Bienchen summen, der Flamingopropeller rattert. Das Paradies ist tatsächlich gleich nebenan, und es gibt immer was zu tun – doch leider, so fand ich just heraus, sind die alten Pflanzkästen allesamt aus Asbest. Und jetzt?

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* 21. Februar 1973 in Wittlich; † 26. Mai 2023 in Berlin, war Redakteur der taz am Wochenende. Sein Schwerpunkt lag auf gesellschaftlichen und LGBTI-Themen. Er veröffentlichte mehrere Bücher im Fischer Taschenbuchverlag („Generation Umhängetasche“, „Landlust“ und „Vertragt Euch“). Zuletzt erschien von ihm "Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik" im Suhrkamp-Verlag (2018). Martin Reichert lebte mit seinem Lebensgefährten in Berlin-Neukölln - und so oft es ging in Slowenien

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