Kolumne Heult doch!: Die Grenze zum Wahnsinn

In der Adventszeit werden die Leute rachsüchtig, missgünstig und fies. Kein Wunder, wenn jedes Jahr der Terror mit dem Adventskalender losgeht

Hoffentlich ist kein Radiergummi drin Foto: dpa

„Ach“, seufzt die Kollegin beim Mittagessen und wischt hektisch auf ihrem Smartphone-­Kalender hin und her, wenn bloß nur schon Januar wäre!“ Kita-Weihnachtsfeier hier, Betriebsweihnachtsfeier da und dieser bekloppte Adventskalender-Terror. Jedes Jahr dasselbe! Was stopft man den Kindern in die Socken? Lego ist teuer. Schokolade enthält Zucker, und so einfach will man es sich ja auch nicht machen. Mini-Radiergummis und andere Nutzlosigkeiten werden von enttäuschten Kindergesichtern zielsicher als solche identifiziert.

Leider wird es einem von der eigenen Brut selten gedankt, wenn man dem Advent mit Anspruch begegnet. Ich rate deshalb inzwischen zum Fertigkalender aus dem Supermarkt für 59 Cent. Den wollte jedenfalls mein großer Sohn neulich sehr dringend haben. „SO einen, Mama, GENAU SO einen Kalender wünsche ich mir!“

Meine Kinder haben natürlich einen Socken-Adventskalender, gestrickt von der Oma, befüllt von mir (mit Schokolade. Und Nüssen! Die werden allerdings vom kleinen Sohn großzügig aussortiert: „Hier, bitte schön, Mama, schenke ich dir“).

Heulen ist okay

Ja, Eltern heulen in der Adventszeit gern mal rum. Lasst uns heulen, wir haben’s gerade nicht leicht. Ständig muss man irgendwas kaufen, und es sind die „Kleinigkeiten“, die einen wahnsinnig machen. „Liebe Eltern, wir fänden es schön, wenn sich jede/r von euch eine Kleinigkeit für den Adventskalender in der Gruppe eures Kindes überlegt. Liebe Grüße, die Kita­leitung.“

„Liebe Eltern, X. und ich dachten, es wäre nett, Frau Y. mal eine kleine Aufmerksamkeit zu Weihnachten zu schenken. Sie macht das so toll mit den ­Musikschul-Knirpsen! Lg, Z. (Mami von A.)“

„Hohoho, ich wollte mal in die Runde mailen, ob sich dieses Jahr wieder alle Eltern an einem kleinen Präsentkorb für das Trainerteam beteiligen wollen? Oder hat jemand eine bessere Idee?!? Schönen Abend noch! (Der Papa von B.)“

Meiner Kollegin geht es genauso – ich werde also nicht verrückt, es fühlt sich nur so an

Ständig muss man backen und den kurz vor Mitternacht produzierten Kuchen beim Adventsbasar in der Kita gegen eine „kleine Spende“ anderntags auch noch selbst wieder aufessen. Und wenn man sich von dem ganzen Irrsinn in der Badewanne erholt, piepst das Smartphone mit einer Vorab­erinnerung: Freitag, 10 Uhr, ­Geschenkpapier kaufen.

Jeder hat seinen Smartphone-Kalender-Slot

Alles und jeder bekommt inzwischen einen Slot in meinem Smartphone-Kalender, sogar das Geschenkpapier. Die Frage ist allerdings, was schlimmer ist: mit so einem Schwachsinns­eintrag in der Badewanne gestört zu werden oder an Heiligabend die überteuerte Harry-Potter-Lego-Sonderedition in unwürdiges Zeitungspapier zu verpacken.

Meine Smartphone-wischende Kollegin sagt beim Mittagessen, sie halte es ähnlich mit ihrem Kalender. Ich werde also wahrscheinlich nicht verrückt, es fühlt sich nur so an.

Ja, die Grenze zum Wahnsinn verläuft einmal quer durch den Advent. Er macht die Menschen reizbar und rachsüchtig. Wenn man so darüber nachdenkt, gehen die Menschen gerade im Advent besonders unchristlich miteinander um.

Neulich, zum Beispiel, in der Musikschule meines kleinen Sohnes: Drei viel zu kleine Unterrichtsräume sind in das Erdgeschoss eines Altbaus gequetscht. In einem schmalen Flur hat jemand sechs Klappstühle postiert. Dort sitzen Eltern, die auf das Ende der Musikstunde warten und versuchen, kleine Geschwister in Schach zu halten. Es ist zu heiß, es riecht nach muffigen Schuhen und nasser Winterjacke, und früher oder später grapscht ein Kind einem anderen die angenuckelte Reiswaffel aus der Hand. Dann gibt’s Geschrei, das sich unangenehm über die quietschende Geige der Schülerin aus dem Nachbarraum legt.

Einfach die Tür öffnen? Wäre okay

Im Sommer kann man natürlich draußen auf dem Spielplatz warten, im Winter aber eben nicht. Wer in den Flur des Horrors will, muss klingeln, dann drückt irgendwer von den Eltern auf den Türöffner.

An dem Nachmittag machte mir niemand die Tür auf. Als wenig später ein Geigenschüler ins Freie stolperte, nutzte ich die Gelegenheit und schlüpfte hinein. Tatsächlich saß drinnen an diesem Tag nur eine einzige Mutter, die offenbar entschlossen war, den Flur für sich und ihre zwei Kinder zu verteidigen.

Ich entschied mich zu meinem eigenen Erstaunen dagegen, diese Tatsache mit einem „Hallo!“ wegzumurmeln, und sagte stattdessen: „Ach, man hört die Klingel gar nicht?!“ Sie sagte irgendwas, ich klärte sie darüber auf, dass es völlig okay sei, wenn sie zukünftig einfach die Tür öffne. „Na dann. Schönen dritten Advent noch“, ­zischelte sie zum Abschied.

Ja, danke. Selber!

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