Kolumne IMMER BEREIT: „Dann bekamen wir Demisej“

Aus dem Tagebuch einer Zehnjährigen: Unsere Kolumnistin hat vor schon vor 25 Jahren Letztgültiges über den Mauerfall verfasst.

Wertvolles Zeitdokument, selten ans Licht geholt. Bild: Lea Streisand

25 Jahre Mauerfall. Was soll man dazu noch sagen, was noch nicht gesagt worden ist? Nichts. Deshalb schreibe ich was auf, was ich schon mal aufgeschrieben habe. Vor 25 Jahren nämlich. In meinem Tagebuch.

4. November 1989

Liebes Tagebuch!

Heute ist die große Demonstration auf dem Alexanderplatz. 1000000 Menschen gehen dahin. Mutti und Vati natürlich auch. Aber mir ist das zu anstrengend, ich gucke mir die Demo im Fernsehen an. Aber mit der Zeit wird das langweilig, weil man als Kind ja doch nicht kapiert was die da reden. Deshalb gucke ich lieber Zeichentrickfilme. Zu der Demo gehen alle Bürger der DDR. Die Demo ist nämlich gegen Erich Honnecker weil herausgekommen ist das er uns alle (Bürger der DDR) betrogen hat:

- nachspioniert

- erpresst

- betrogen.

Genau genommen habe ich diese Worte auch schon zweimal aufgeschrieben. Einmal mit krakeliger Viertklässler-Handschrift in mein erstes Tagebuch und dann nochmal mit Schreibmaschine in mein zweites, das schöne mit dem Ledereinband wo vorne mein Name eingraviert ist. Das bekam ich im Sommer 1990 zum elften Geburtstag. Aus Gründen der Vollständigkeit übertrug ich die vorhergehenden Einträge. Mit der ausrangierten Schreibmaschine meiner Mutter habe ich die Worte auf olles kariertes Heftpapier getippt und die Blätter dann in das Tagebuch eingeklebt. Vielleicht sind die Worte sprachlich geglättet, mit dem Weitblick der Elfjährigen, die ein Jahr später die Tragweite der historischen Ereignisse überblickt. Keine Ahnung. Es ist jedenfalls auffällig, dass die kindlichen Eifersuchtsdramen (Mandy war heute gemein zu mir, Annika hat mich geschubst und Danielle ist jetzt nicht mehr meine Freundin, ich spiele lieber mit Magda!) schlagartig abgelöst werden durch gesellschaftspolitische Beobachtungen wie diese:

2.7.1990

Liebes Tagebuch! Es hat sich alles geändert. Ich meine nicht nur die privaten Sachen. Sondern vor allem in der Politik. Und das kam so: Nachdem die Grenzen offen waren bekamen wir Demisej [de Maizière, Anm. d. Red.] und große Wahl war auch. Vorher war ja immer nur die SPD [durchgestrichen] SED gewesen, jetzt aber haben wir ‚Bündnis 90’, die ‚grüne Partei’, die ‚CDU’ (die ist jetzt die Größte) und es soll auch noch die DDR mit der BRD zusammen getan werden so das wieder ein Deutschland besteht. Ich finde das nicht gut. Weil dann nämlich die anderen Menschen auf der Welt dann wieder Angst haben müssen vor den Deutschen.

Auch mein feministisches Erweckungserlebnis habe ich in meinem Tagebuch festgehalten:

30.9.1990

Liebes Tagebuch!

Gestern waren wir auf der letzten Demo in der DDR! Es war eine Frauendemo. (Man) Frau konnte Bücher, Plakate und Lufbalongs kaufen, die so aussahen:

Ich habe die Luftballons gemalt. Sie sind lila. Auf der einen Seite ist die feministische Faust abgebildet und auf der anderen der durchgestrichene „§218“.

Wir sind dann ungefähr eine Stunde dageblieben. Die auf der Bühne haben traurige Lieder gesungen, gewarnt, erzählt und Mut gemacht. Sie sangen von hungernden Kindern, von sterbenden Müttern und Vätern und von Unterdrückung. Ich bekam Angst, Angst vor der Zukunft.

Im Grunde können wir alle bloß froh sein, dass ich immer zu faul war, ein Instrument zu lernen. Aus mir hätte eine fürchterliche politische Liedermacherin werden können.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Schriftstellerin, zuletzt "Hätt' ich ein Kind" bei Ullstein, Kolumnen montags bei Radio Eins.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.