Kolumne Lügenleser: Nach unten treten

Eine rechte Internetarmee hat die absurde Angst, zur Minderheit zu werden. Warum eigentlich? Werden Minderheiten etwa schlecht behandelt?

Verschiedene pyrotechnische Gegenstände liegen nebeneinander

Um Silvester herum fühlten sich plötzlich Dutzende animiert, eine Packung Böller extra zu kaufen Foto: dpa

Wir kennen das Spiel: Erst ist die Gesellschaft total verkrustet, Stillstand, keine Entwicklung. Dann kommen langhaarige Studenten und brüllen „Unter den Talaren – Muff von 1.000 Jahren“ und plötzlich verändert sich nachhaltig etwas. Die Bewegung der 68er fand ihren Höhepunkt schließlich in dem Gespann Schily/Fischer. Der ehemalige „Steineschmeißer“ Fischer wurde später Lobbyist für Siemens, RWE und BMW. Schily, vormals RAF-Anwalt, arbeitete unter anderem als Interessenvertreter der kasachischen Regierung und versuchte die Strafverfolgung von Regimegegnern zu befeuern. Alles beim Alten also.

Nun reicht der Platz hier nicht, um die gesamte Regierungsarbeit unter Schröder zu bewerten (Spoiler: It was Bullshit!), aber eines kann man mit Sicherheit sagen: An der (höflich formuliert) erzkonservativen Seele der Rechtsaußen-Fraktion hat der Erfolg der 68er bleibende Schäden hinterlassen. Sie glauben, gelernt zu haben, wer laut genug brüllt und rebelliert, der kommt irgendwann auch an den Futtertrog.

Sich gegen das angebliche Establishment aus Klimaschützern, FeministInnen und Linksradikalen zur Wehr zu setzen, ist das neue Aufbegehren für sie. Dass diese Einschätzung der Machtverhältnisse komplett an der Realität vorbeigeht, spielt bei den wütenden Rebellen von heute keine Rolle.

Beatrix von Storch ist eine von ihnen. Mutig prescht sie vor, die Jeanne d’Arc der Klimawandel-Leugner: „Hätte ich einen Dieselgenerator, würde ich ihn zum Spaß laufen lassen“, schrieb sie jüngst bei Twitter. Wow! Warum die Frau keinen Dieselgenerator hat, bleibt unklar, ob sie ihn bei geschlossenem Fenster verwenden will, ebenfalls. Wenn mehr Frauenrechte gefordert werden, sprechen Rechte von „FemiNazis“.

Durch das Netz gejagt

Um Silvester herum fühlten sich plötzlich Dutzende rechte Blogger animiert, eine Packung Böller extra zu kaufen, weil „Feinstaub kiss my ass“. Dass Flüchtlinge Smart­phones besitzen, ist nach wie vor einer der größten Aufreger und sorgt für vermeintlich klassenbewusste Debatten. Twitter-User veröffentlichen stolz ihr in Plastik verpacktes Mittagessen und fühlen sich wie Che Guevara, weil sie angeblich den „gleichgeschalteten“ Massen trotzen. Aktuell wird die 16-jährige Klimaaktivistin Greta Thunberg durch das Netz gejagt, da sie es gewagt hat, die Aufmerksamkeit auf eines der dringendsten Probleme unserer Zeit zu lenken.

Die Spitze dieser neuen „Systemgegner“ sind diverse AfD-Politiker und Menschen wie Welt-Kolumnist Don Alphonso. Hinter ihnen eine Internet-Armee, die sich tatsächlich als mutige Aufklärertruppe und Querdenker sieht. Doch wo die 68er nach oben schauten, treten sie nach unten. Während Fischer & Co wenigstens auf die Straße gingen, versauern sie vor dem PC. Über all ihrem Handeln schwebt die absurde und unberechtigte Angst, zur Minderheit zu werden. Warum eigentlich? Werden Minderheiten in diesem Land etwa schlecht behandelt? Ach, sieh mal einer an.

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Juri Sternburg, geboren in Berlin-Kreuzberg, ist Autor und Dramatiker. Seine Stücke wurden unter anderem am Maxim Gorki Theater und am Deutschen Theater in Berlin aufgeführt. Seine Novelle "Das Nirvana Baby" ist im Korbinian Verlag erschienen. Neben der TAZ schreibt er für VICE und das JUICE Magazin.  

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