Kolumne Nachbarn: Liebe, Musik und Tanz

Ein Lied lässt die Freundin sorglos tanzen. Dasselbe Lied erinnert unsere Kolumnistin an Syrien – und an das Wichtigste im Leben.

Der leere Stuhl eines Straßenmusikers steht am 11.11.2016 in Stuttgart (Baden-Württemberg) neben einem Akkordeon.

„Das nächste Lied ist für dich.“ Das will man doch hören! Foto: dpa

„Die tiefen Falten in ihrem Gesicht deuteten darauf hin, dass sie über sechzig war. Ihr buntes Kleid und die Tätowierung auf ihrer rechten Hand erinnerten an die Sinti und Roma. Sie rauchte Marihuana, spielte auf einem alten Akkordeon, während sie sich ab und zu mit ihrem Lippenstift die rote Farbe auffrischte. Und bevor sie wieder zu spielen begann, zählte sie die Cents in ihrem Hut und lächelte zufrieden. Ich stand mit vielen anderen bei ihr. Nach dem zweiten Stück hieß sie mich näherzukommen und flüsterte mir ins Ohr: ‚Liebe ist das Schönste im Leben!‘ Und: ‚Das nächste Lied ist für dich.‘ Dann spielte sie ein langsames, melancholisches Stück. Die Münzen flogen in ihren Hut. Ich tanzte und schwang die Arme in die Luft.“

Ich war begeistert von dieser Geschichte, die mir meine Freundin erzählte. Am Ende begann sie zu tanzen und sagte: „Ich tanzte lange, getragen von der Kraft der Musik und der Liebe, ohne Hemmungen; ich schwebte geradezu in der Luft.“

Während sie tanzte, fragte ich sie, ob sie wüsste, dass wir in Syrien die Sinti und Roma bzw., wie manche sie nennen, die „Zigeuner“ bzw. Gitanos mit Liebesgeschichten, mit Musik und Gesang verbinden. Eine Gruppe campierte jeden Sommer unweit meines Dorfes in Syrien. Tagsüber gingen sie ihren Beschäftigungen, einschließlich des Bettelns von Haus zu Haus, nach. Abends feierten sie bis spät in der Nacht.

Wenn sie ihre Zelte aufschlugen, rannten die Kinder durchs Dorf und schrien: „Die Gitanos kommen.“ Dann wussten die Dorfbewohner, dass sie nun ihre Kupferwaren veredeln oder polieren lassen konnten. Die frisch verliebten Frauen und Männer im Dorf freuten sich, bald über Heiratschancen und mögliche Nachkommen vom Kaffeesatzlesen durch die Sinti- und Roma-Frauen zu erfahren.

Eine Leiche

Manche junge Männer verliebten sich in die eine oder andere schöne „Zigeunerin“. Ich erfuhr als Teenager, dass es einem jungen Mann aus unserem Dorf so ergangen war. Diese jedoch wollte gar nichts davon wissen. Und als er an einem hellen Morgen feststellte, dass sie und ihre Familie nicht mehr da waren, machte er sich auf die Suche nach ihr.

Nur sporadisch hörte man seitdem etwas von ihm: dass er mal in Jordanien, mal in Palästina oder im Libanon war. Immer vergeblich auf den Spuren der Geliebten. Nachdem einige Jahre vergangen waren, erzählte man sich, er habe sich am Ende das Leben genommen. Seine Leiche sei auf Bahngleisen bei Aleppo gefunden worden.

Meine Freundin hörte beim Hören von „er habe sich am Ende das Leben genommen“ auf zu tanzen und sagte: „Ja, genau das meinte die Akkordeonspielerin. Das Schönste im Leben ist die Liebe. Ohne Liebe hat das Leben keinen Sinn!“

Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Kefah Ali Deeb wurde 1982 in Latakia, Syrien, geboren und ist 2014 nach Berlin geflohen. Sie ist bildende Künstlerin, Aktivistin und Kinderbuchautorin, außerdem Mitglied des National Coordination Committee for Democratic Change in Syrien.  

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.