Kolumne Nachbarn: Das Haus meines Großvaters

Plötzlich befinde ich mich in Damaskus, mit einem Haus auf meinem gekrümmten Rücken. Durch das Fenster sehe ich den Landwehrkanal.

Schneckenhaus am Rande einer Bahnstrecke

„Vergeblich suchte ich nach einer Möglichkeit, das Haus abzustellen.“ Foto: dpa

Mir kam das Haus eher klein vor: Es bestand aus drei Zimmern, mit Außenwänden aus weißem Stein; hätte es keine Dachziegel gehabt, hätte ich gesagt, es ist das Haus meines Großvaters in den Bergen von Latakia, in dem ich aufwuchs und meine Kindheit verbrachte.

Plötzlich rückten die Ziegel in den Hintergrund und ich dachte, es könnte tatsächlich das Haus meines Großvaters sein. Ich ging auf das Haus zu und breitete meine Arme aus; doch als ich die Wände umarmen wollte, wurde das Haus immer kleiner und kleiner, bis es ganz in meine Arme passte.

Geschwind und mühelos hob ich es mit bloßen Händen hoch, als wäre es mein kleines Kind. Unter dem Haus erblickte ich einen unendlichen Tunnel, durch den ein starker Wind blies. Ich sagte mir: Auf der anderen Seite des Tunnels muss es doch eine Öffnung zur anderen Welt geben. Ich dachte an das Foto von dem schwarzen Loch. Ja, das ist das, folgerte ich. Da fürchtete ich, das Haus würde, wenn ich es wieder hinstellte, von diesem schwarzen Loch verschluckt.

Unvermittelt erschien eine fremde Person, die mich erstaunt anblickte. Ich schrie sie an: „Starr mich nicht so an. Hilf mir einfach, aber pass auf, dass das Haus nicht ins Loch fällt.“

Trümmer zu beiden Seiten des Weges

Der Fremde kam tatsächlich zu mir und ich gab ihm das Haus, damit er es mir auf den Rücken laden konnte. Er tat es und verschwand genauso plötzlich, wie er erschienen war.

Ich hatte das Haus gerade auf meinen Rücken geladen und wollte losgehen, als das Haus begann, immer größer und größer zu werden, so dass es meine Wirbelsäule um neunzig Grad krümmte.

Plötzlich befand ich mich mitten in Damaskus, mit dem Haus auf meinem gekrümmten Rücken und bestieg den Berg Qasiyun. Dabei lief ich Wege, die mir vertraut, aber irgendwie auch unheimlich waren. Zu beiden Seiten der Wege sah ich nur die Trümmer zerstörter Häuser. Wo sind die Menschen geblieben? Wohin sind sie gegangen? Warum haben sie ihre Häuser nicht mitgenommen? Diese und viele andere Fragen blieben in der betretenen Stille unbeantwortet.

„Starr mich nicht so an. Hilf mir einfach, aber pass auf, dass das Haus nicht ins Loch fällt“

Ich hörte nur meine Schritte und meine Atemzüge unter der schweren Last auf meinem Rücken und spürte starke Schmerzen in meinem Zwerchfell. Vergeblich suchte ich nach einer Möglichkeit, das Haus abzustellen.

Ich stieg weiter den Berg hoch. Oben angekommen stellte ich das Haus ab und ging hinein.

Ich begann aufzuräumen, und als ich zum Lüften das Fenster öffnete, sah ich auf einmal den Landwehrkanal.

Es ist Montagmorgen in Berlin. Mein Lebenspartner und ich suchen eine Wohnung und haben heute einen Besichtigungstermin. Wir suchen schon seit fast einem Jahr; ich weiß nicht, wie viele Absagen wir bis heute erhalten haben. Ich weiß auch nicht, wie viele Albträume noch meinen Schlaf heimsuchen werden, wie oft ich noch das Haus meines Großvaters auf meinem Rücken tragen und mit dieser Last den Berg Qasiyun erklimmen muss, wie viele leer gefegte Straßen und Trümmer ich noch erblicken muss und wie viele Fragen noch unbeantwortet bleiben werden, bis wir endlich eine bescheidene Mietwohnung finden.

Übersetzung: Mustafa Al-Slaiman

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Kefah Ali Deeb wurde 1982 in Latakia, Syrien, geboren und ist 2014 nach Berlin geflohen. Sie ist bildende Künstlerin, Aktivistin und Kinderbuchautorin, außerdem Mitglied des National Coordination Committee for Democratic Change in Syrien.  

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