Kolumne Pressschlag: Die Tragik des Jan Ullrich

Jan Ullrich ist ein Paradebeispiel dafür, wie grausam der Sport mit seinen Athleten umgehen kann. Öffentlichkeit und Medien dämonisierten ihn.

Eine Nahaufnahme des Gesichts von Jan Ullrich

Jan Ullrich steht ein langer, schwieriger Weg bevor Foto: dpa

Es waren erschütternde Bilder und Nachrichten, die im August 2018 vom gefallenen Rad-Heros Jan Ullrich an die deutsche Öffentlichkeit drangen. Das alles ergab das Bild eines Lebens, das hoffnungslos aus dem Ruder gelaufen ist. Es war eine Tragödie, die sich vor aller Augen abspielte, und zum ersten Mal seit seinen großen Erfolgen richtete sich vonseiten der deutschen Öffentlichkeit ein mitfühlender Blick auf den gefallenen Helden.

Die Systemfrage wurde aber wieder nicht gestellt. Jan Ullrich ist ein Paradebeispiel dafür, wie grausam der Hochleistungssport mit seinen Athleten umgehen kann. Der ehemalige Mannschaftskamerad Jan Ullrichs, Jörg Jaksche, verknappte die Dynamik in einem Interview auf die Formel: „Du wirst bis aufs Letzte ausgequetscht. Und dann wirst du fallen gelassen.“ Damit klagte Jaksche alle an, die am Sport partizipieren: Fans, Politik, Medien, die Wirtschaft.

„Es gibt eine Schuld der gesamten Gesellschaft, die sie nicht wahrnimmt“, sagt der Berliner Sportsoziologe Gunter Gebauer. Der Fall Jan Ullrich ist ein Extremfall, aber lange kein Einzelfall. Die Liste der ehemaligen Sportidole, die im zivilen Leben nie oder nur unter großen Wehen Tritt gefasst haben, ist lange.

Der „Bomber der Nation“ Gerd Müller gehörte ebenso dazu wie seine Fußballkollegen Erwin Kostedde und Uli Borowka. Die Schwimm-Olympiasieger Ian Thorpe und Michael Phelps berichteten von einem jahrelangen Kampf mit Depressionen. Der Skisprung-Olympiasieger Matti Nykänen kämpft bis heute mit schweren Alkohol- und Drogenproblemen.

Moralisierende Berichterstattung

Wie Gebauer sagt, wird in jeder ehrlichen Sportlerbiografie der Übergang von der Sportkarriere ins Leben danach als Krise beschrieben. Nur selten führt der Übergang wie im Fall Ullrich zu einem psychosozia­len Kollaps. Doch die Faktoren, die bei ihm in einer besonders unglücklichen Kombination zum Zusammenbruch geführt haben, wirken auf jeden, der einmal Sport als Beruf oder wenigstens als Lebens­inhalt betrieben hat.

Ullrich rang zeit seiner Laufbahn mit den Ansprüchen, die an ihn gestellt wurden – vom Staats­apparat der DDR, von der deutschen Öffentlichkeit, vom Staatskonzern Telekom. Seit seinem Tour-de-France-Sieg 1997 waren bei ihm Ausweichbewegungen zu beobachten – er nahm in der Nachsaison zu, Gerüchte um Alkoholexzesse machten die Runde.

Zum endgültigen Absturz führte für Ullrich jedoch erst das jähe Ende seiner Laufbahn. Das Karriereende ist für viele Sportler traumatisch. Für Ullrich kam hinzu, dass es abrupt war und wegen seiner Dopinggeschichte mit einer totalen sozialen Ächtung zusammenfiel. Ullrich war zum Marketing Disaster geworden. Über das systematische, von der Mannschaft organisierte und vermutlich vom Konzern geduldete Doping wurde nicht gesprochen, die Medikamenteneinnahme wurde erst einmal als Einzeltat dargestellt.

Normalerweise berichten wir nicht über Suizide. Dies gibt der Pressekodex vor. Dort heißt es: „Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände.“ Ausnahmen sind zu rechtfertigen, wenn es sich um Vorfälle der Zeitgeschichte oder von erhöhtem öffentlichen Interesse handelt.

Zudem meiden wir Berichte über Selbsttötungen, da hierdurch die Nachahmerquote steigen könnte.

Sollten Sie von Suizidgedanken betroffen sein, so wenden Sie sich bitte an professionelle Helferinnen und Helfer. Diese finden Sie jederzeit bei der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 oder auch unter www.telefonseelsorge.de.

Ullrich verlor von einem Tag auf den nächsten alles – Anerkennung, Selbstwertgefühl, seine Existenz. Die Öffentlichkeit, befeuert von einer moralisierenden Berichterstattung, dämonisierte ihn. Die Radsportler Marco Pantani und Frank Vandenbroucke sind an einer ähnlichen Situation zerbrochen. Vandenbroucke überlebte einen Suzidversuch, weil ihn eine Teamkollege rechtzeitig fand. Nachdem er 2009 an einer Lungenembolie gestorben war, fanden sich in seinem Körper Spuren von jahrelangen Drogenkonsum. Und als Marco Pantani 2014 an einer Überdosis Kokain starb, machte man sich viel zu spät Gedanken über die psychische Verfassung des nach seinem Ausschluss vom Giro d’Italia 1999 von vielen geächteten Italieners.

Andere gefallene Fahrradstars wie Floyd Landis und Tyler Hamilton sind laut Selbstbeschreibungen durch eine tiefe Krise gegangen, an der sie dem Suizid nahe waren.

Teil des Gesamtkomplexes

Jan Ullrich steht ein langer, schwieriger Weg bevor. In der Zwischenzeit ist die Öffentlichkeit gefordert, wie Gunter Gebauer sagt, sich mit dem „äußersten Verständnis und der äußersten Nachsicht“, Jan Ullrich und allen anderen Athleten zuzuwenden, die mit einem Übergang in ein Leben nach dem Sport ringen. Dazu gehört auch, sich zu fragen, was alle, die in irgendeiner Form am Sport teilhaben, zu dieser Katastrophe beigetragen haben.

Die Medien und Fans, die, so Gebauer, zwischen „einem Voyeurismus des Sieges und einem Voyeurismus der Tragik“ changieren; die Politik und die Wirtschaft, die Siege und Medaillen fordern, sich aber vor ihrer Verantwortung gegenüber den Athleten drücken. Und die Moralisten, die Doping-„Sünder“ kriminalisieren, anstatt Doping als Teil des problematischen Gesamtkomplexes Leistungssport zu begreifen.

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