Kolumne Psycho: Sehen und gesehen werden

Es ist eine Sache, Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht zu verurteilen. Eine völlig andere ist es, wirklich zu versuchen, sie zu verstehen.

Eine Frau auf einer Baustelle hält einen Regenschirm vors Gesicht

Hallo, kannst du mich sehen? Foto: photocase/Lucas1989

Erinnern Sie sich noch an den Film „Nackt“ von Doris Dörrie? Gibt es jetzt auch auf Netflix, 15 Jahre später. „Du siehst mich nicht“, sagt Nina Hoss irgendwann zu Mehmet Kurtuluş, der ihren Mann spielt. Er widerspricht: „Ich sehe dich an.“ Und Nina Hoss schreit: „Aber du SIEHST mich nicht!“

Nicht nur in der Liebe geht es darum, gesehen zu werden. Der Wunsch, von seinem Gegenüber erkannt zu werden, wirklich erkannt, unter der ganzen Schminke und der verspiegelten Sonnenbrille, spielt in jeder ernsthaften zwischenmenschlichen Beziehung eine Rolle. Leider wird die Sehnsucht nach tiefem Verständnis für das eigene Innenleben gerade bei Menschen mit psychischen Erkrankungen oft nicht gestillt, dabei würde es ihnen enorm helfen.

Aber klar: Ist halt so abstrakt, eine bipolare Störung. Und unter #DepressionHasNoFace posten Betroffene haufenweise lachende Selfies, wie soll man denn da noch durchblicken? Andererseits: Wie soll man sich denn normal fühlen, wenn niemand nachvollziehen kann, was in einem vorgeht? Mal abgesehen vielleicht vom Therapeuten und anderen Betroffenen.

Am Tag der seelischen Gesundheit vergangenen Dienstag konnte man das ganz gut beobachten. Es geht bei solchen Gelegenheiten ja hauptsächlich um Aufklärung und Entstigmatisierung, und das ist auch unglaublich wichtig und richtig, aber letztendlich bestätigen sich diejenigen, die betroffen sind, gegenseitig darin, dass es okay ist, nicht okay zu sein, und ein paar Deppen machen flache Witze.

Dialog hilft beim Nachempfinden

Wo sind die anderen? Die plus Einsen, die Eltern, die Freunde, die Kinder, die Kolleginnen? Diejenigen, die noch nie an ihrer eigenen Seele erfahren haben, wie sich eine Depression anfühlt, und die trotzdem täglich versuchen, uns zu verstehen? Die gibt es nämlich, zum Glück. Aber im öffentlichen Diskurs sind sie – mit Ausnahmen wie Teresa Enke und Talinda Bennington – meistens unsichtbar. Dabei ist genau dieses Verständnis bitter nötig. Nur, wer gesehen wird, kann sichtbar sein.

Es ist eine Sache, Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht zu verurteilen oder abzulehnen. Und eine völlig andere, wirklich zu versuchen, sie zu verstehen. Dazwischen liegen Sätze wie: „Es ist ja okay, dass du das hast, aber gibt es gar kein anderes Thema mehr?“, „Lach doch mal“, „Reiß dich halt mal zusammen“, „Ich akzeptiere deine Krankheit ja, aber ich kann sie trotzdem nicht nachvollziehen“, „Ich verstehe das, ich habe auch manchmal schlechte Tage“.

Um etwas nachvollziehen zu können, muss man gar nicht unbedingt selbst betroffen sein – es braucht nur den Willen, einen Dialog zu führen, und die Fähigkeit, zu abstrahieren und eigene Erfahrungen mit denen des Gegenübers abzugleichen. Und, natürlich, ein Mindestmaß an Empathie. Besser ein bisschen mehr. Kann man aber auch lernen.

Laut einer neuen Studie sind empathische Menschen übrigens besonders anfällig für Depressionen – im Umkehrschluss dürfte es nicht allzu schwer sein, einen Depressiven zu finden, der einem Nachhilfe im Mitfühlen gibt. Wenn man denn will.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Jahrgang 1984, Redakteurin der taz am wochenende. Bücher: „Rattatatam, mein Herz – Vom Leben mit der Angst“ (2018, KiWi). „Theo weiß, was er will“ (2016, Carlsen). „Müslimädchen – Mein Trauma vom gesunden Leben“ (2013, Lübbe).

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.